Donnerstag, 3. Juli 2014

Marxistische Holzwege

Es gilt als unfair, einen toten Gegner zu bekämpfen - aber wenigstens sollte man ihn ordentlich beerdigen! Sonst sind unangenehme Folgen für die noch Lebenden zu erwarten. Daher folgt hier einmal Punkt für Punkt eine klare Zurückweisung der grundlegenden marxistischen Denkmuster, die immer noch als unbewiesene Annahmen und scheinbare Selbstverständlichkeiten im Diskurs herumschwirren. Wir sprechen nach wie vor von "Ausbeutung", "Verelendung", "Klassenkampf", oft ohne uns bewusst zu sein, dass all diese Begriffe Versatzstücke aus einem Theoriegebäude sind, das als Ganzes längst erledigt ist.

Die "Arbeitswerttheorie" ist metaphysisch

Marx stützt sich auf die im Kern schon bei David Ricardo, Adam Smith und William Petty zu findende Theorie wonach ein sogenannter Wert einer Ware existiere, der durch die zu seiner Produktion nötige Arbeit zu bestimmen sei. Dieser Wert müsse streng unterschieden werden von seinem tatsächlichen Handelspreis, also dem Geldbetrag, womit das Produkt seinen Besitzer wechselt. Letzterer, der Handelspreis, sei nur ein durch Angebot und Nachfrage verzerrtes Schwanken um seinen wahren Wert. Der wahre Wert bestimme sich vielmehr dadurch, wieviel Arbeitszeit die Proletarier (das sind Menschen, die mangels Besitz von Produktionsmitteln ihre Haut auf dem Arbeitsmarkt feilbieten müssen) in die Herstellung des Produkts investieren mußten. Diese Ricardosche Arbeitswerttheorie kam Marx sehr entgegen, weil durch sie der Proletarier als das eigentliche Wert schaffende Subjekt ins Zentrum der Betrachtungen gestellt wird.

Nun kann man sehr viel Zeit in die Herstellung eines Produktes investieren, das schliesslich keiner haben will. Obwohl der Wert eines solchen Produkts nach dieser Theorie also hoch ist, wäre der Preis mangels Nachfrage faktisch gleich Null.[0] Da dies dann auch für Marx eine etwas zu starke Abweichung von der Realität ist, lehrt er den "Doppelcharakter der Ware", die einerseits Tauschwert hat (den Arbeitswert), andererseits aber Gebrauchswert ist, indem Menschen die Ware für nützlich befinden. Durch die Einschränkung der Theorie auf Gebrauchswerte hat man die arge Diskrepanz mit den mühevoll hergestellten, aber nicht nachgefragten Produkten schon mal wegdefiniert.

Weiter gibt es faule und fleissige Proletarier. Die Zeit zur Herstellung des Produktes variiert also individuell. Um dennoch am "wahren Wert" festzuhalten, muß man einen Durchschnittswert über alle proletarischen Arbeitszeiten bilden. Ausserdem gibt es Industrie- und Manufakturbetriebe, dieselbe Ware kann also mit unterschiedlicher Produktivität hergestellt werden. Um dennoch am "wahren Wert" festzuhalten, muß auch ein Durchschnittswert über alle aktuell vorhandenen Produktionsstandorte mit ihren je unterschiedlichen technologischen Voraussetzungen gebildet werden. Marx bestimmt schliesslich den Wert einer Ware als "die zu ihrer Herstellung gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit".

Der Frage, wie denn nun konkret diese Werte zu berechnen sind, hat seither die marxistischen Schriftgelehrten beschäftigt, ohne dass sie zu einem greifbaren Ergebnis gekommen wären. Der Grund ist einfach: Diese mystischen "Werte" gibt es überhaupt nicht. Sie sind metaphysische Grössen, die von Marx nur aus ideologischen Gründen eingeführt wurden - damit er seine Lehre vom Mehrwert und der Ausbeutung über diesem Fundament wölben konnte.

In der Realität hat eine Ware einen Preis, der im Austausch der Marktteilnehmer ausgehandelt wird - und damit hat es sich. Zwar sprechen wir manchmal vom Wert einer Ware im Unterschied zu ihrem Preis, zum Beispiel in der Kostenrechnung und Buchhaltung, aber dann ist nichts anderes als ein geschätzter Preis gemeint. In diesem Sinne - als eine Schätzung des Preises mit einer maximal zulässigen Toleranz - kennt auch der Gesetzgeber den Wertbegriff. Der Preis ist also das klare Prius, die reale Grösse, während der Wert nur ein Versuch ist, einen geschätzten Preis zu ermitteln – unter Verzicht auf die Kauftransaktion, die den realen Preis allein bestimmen würde.

Anders gesagt: Um gesellschaftliche ökonomische Vorgänge zu verstehen, genügt der Begriff des Preises von Waren, ein diesem vorausgehender Wertbegriff ist nicht notwendig: alle ökonomischen Prozesse lassen sich auch auf Basis des Preises allein verstehen, ohne den zusätzlichen Begriff des Wertes. Der Begriff des Wertes kann daher nach dem Ockhamschen Sparsamkeitsprinzip weggelassen werden.

Nun habe ich nichts gegen metaphysische Reflexionen, sondern halte sie im Gegenteil sogar für sehr wichtig - dort wo sie am Platze sind. Es ist aber peinlich für einen materialistischen Philosophen, der uns im Übrigen das metaphysische Denken beharrlich austreiben möchte, seine eigenen Theorien auf einen metaphysischen Begriff zu gründen — einen Begriff, der selbst überhaupt keine reale Grundlage hat, sondern von dem er nur erwartet, es müßte doch eine solche Grundlage geben. Die Goethesche Maxime des Forschens: "Man suche nichts hinter den Phänomenen! Die Phänomene selbst sind die Lehre"[6], wird hier gleich zu Beginn beherzt über Bord geworfen. Dass die Marktwirtschaft durch die realen Handelstransaktionen ihrer Teilnehmer bereits ausreichend bestimmt ist, ist in den Augen Marxens zu banal, zu unpolitisch, zu ahistorisch, zu vordergründig. Das Nutzeninteresse des einzelnen als Antrieb zum Handel erscheint dem Marxisten als gesellschaftlich blind: es sei allenfalls Werkzeug für eine dahinterliegende gesamtgesellschaftliche Gesetzmässigkeit, die der politische Ökonom zu entschlüsseln habe. So spricht der Metaphysiker: "Die Phänomene können nicht alles sein - es muß doch etwas dahinterstecken!"

Die Ausbeutung

Nachdem es durch die Arbeitswerttheorie so schön "geklärt" ist, dass der Proletarier derjenige ist, der im Kapitalismus die Werte schafft, können wir uns seinem Gegenspieler zuwenden, dem Kapitalisten. Da der Kapitalist keine Werte schafft, ist er im Marxismus von vorneherein als Schmarotzer anzusehen (und um dieses Ergebnis zu produzieren, wurde die Theorie schliesslich entwickelt). Der Begriff des Mehrwerts schafft die theoretische Grundlage für dieses Ergebnis. Mit der Formel, der Wert eines Produkts sei c + m + v sagt Marx, dass der Warenwert neben einem Wertanteil für die aufgewendeten Produktionsmittel (Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen, Gebäude), dem sogenannten konstanten Kapital (c), und der Arbeitskraft des Proletariers, dem variablen Kapital (v), noch einen weiteren Anteil enthält, den Mehrwert (m) oder Profit, den sich der Kapitalist aneignet, wobei er im Eigeninteresse nach der Maximierung der sogenannten Profitrate strebt, dem Verhältnis des Mehrwerts m zu seinen Aufwänden c+v.

Dieser Vorgang der Aneignung von Mehrwert wird als Ausbeutung bezeichnet. Ausbeutung wird als etwas an sich Überflüssiges und als das eigentliche Grundübel der kapitalistischen Produktionsweise dargestellt: Sobald die Gesellschaft eine Reproduktionsweise der bewussten gesellschaftlichen Kontrolle der Produktion und Verteilung entwickelt habe, könnte man m = 0 setzen, und die vom Mehrwert m > 0 schmarotzende Schicht der Kapitalisten würde automatisch wegfallen.

Marxisten hüten sich dabei, von einem Unrecht zu sprechen, die Kapitalisten also mit moralischen Kategorien anzuprangern. Sie wissen nämlich, dass Kategorien wie Recht und Unrecht nach ihrer Theorie keine objektive Grundlage haben. Dennoch ist der Ausbeutungsbegriff natürlich wertend, und diese Wirkung ist beabsichtigt, sie ist die Antriebskraft der kommunistischen Bewegung. Erst Arbeiter, die sich um einen Teil ihres Lohnes geprellt fühlen, die sich also als Opfer eines Betrugs oder Diebstahls sehen, eines objektiven Unrechts, und somit vor einer höheren, überzeitlichen Instanz als Ankläger auftreten, können die Antriebskraft für einen Umsturz entfalten.

Die Anklage selbst ist natürlich haltlos, denn erstens fusst der Mehrwertbegriff auf der falschen Arbeitswerttheorie (siehe oben), und zweitens ist der Anspruch des Arbeiters ja durch den Lohn für seine Arbeit abgegolten, den er sich mit dem nach Arbeitskräften suchenden Kapitalisten erhandelt hat. Die fertige Ware gehört dem Unternehmer, der sie produzieren liess, und er kann damit machen, was er will. Er wird selbstverständlich versuchen, sie zu einem guten Preis auf dem Markt abzusetzen - wenn der für das Produkt ausgehandelte Preis unter den für den Weiterbetrieb und die Weiterentwicklung notwendigen eigenen Aufwänden liegt, wird sein Unternehmen pleitegehen.

Die Verelendung

Das Wort Kapitalismus an sich enthält nach mittlerweile über 150 Jahren kommunistischer Agitation eine negative Wertung, obwohl ja nur der freie, d.h. nicht staatlich reglementierte Handel der Bürger gemeint ist, eine Wirtschaft frei von staatlichen Eingriffen, staatlicher Lenkung, von Klassen- und Standesgrenzen des Handels. Ich bevorzuge daher den Begriff der (freien) Marktwirtschaft.

Die Theorie, dass Marktwirtschaft gesetzmässig eine zunehmende Verelendung der Proletarier nach sich ziehe, wäre eine weitere marxistische Peinlichkeit, da sie im offensichtlichen Widerspruch zu dem steht, was sich in den letzten 150 Jahren entfaltet hat. Heutige Marxisten verorten die Verelendungstheorie daher nicht bei Marx selbst, sondern bei irgendwelchen seiner Schüler, die den Meister falsch ausgelegt hätten ("Vulgärmarxisten"), oder als Strohmann bei seinen Gegnern wie dem "Revisionisten" Eduard Bernstein — und versichern, diese Ansicht gehe auf keinen Fall auf den grossen Denker und Philosophen Karl Marx zurück.

Dem steht allerdings entgegen, dass die Verelendungstheorie im Hauptwerk Das Kapital eindeutig formuliert wird:

Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d. h. auf Seite der Klasse, die ihr eigenes Produkt als Kapital produziert.[3]

Mittlerweile ist die Denkfigur von der "Verelendung der Massen in der sich zuspitzenden Krise zwischen Kapital und Arbeit" längst Allgemeingut geworden. Die Zeitungen repetieren im Endlosmodus, die Schere zwischen Arm und Reich würde immer weiter aufgehen, und es ist gängiger Konsens, dass man daher "den kapitalistischen Tiger bändigen" müsse, um ihn sozialverträglich zu machen. Nüchtern gesehen, scheinen viele darunter die Ermächtigung zu verstehen, Mitbürger mit überdurchschnittlichem Einkommen oder Vermögen im Interesse der Allgemeinheit zu enteignen und ihren Besitz in die Obhut wohlmeinender Staatsbeamter zu geben.

Aber die Verelendungstheorie ist nicht nur widerlegt, sondern die Geschichte hat auch ihr gerades Gegenteil gezeigt: Je weniger der Markt staatlich reguliert wurde, umso mehr stiegen Einkommen und Wohlstand, umso mehr Menschen wurde ein immer angenehmeres Leben beschert.

Die Klassen und ihre Kämpfe

Die begriffliche Unterscheidung der Menschen in Besitzer von Produktionsmitteln (Kapitalisten) und Lohnabhängige (Proletarier), die vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben (müssen), ist zwar möglich, hat aber wenig Aussagekraft für die Beurteilung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse: Der Besitzer einer Würstchenbude ist nach diesen Begriffen ein Kapitalist (er ist Privateigentümer von Produktionsmitteln), während der Spitzenmanager eines grossen Konzerns, den er selbst nicht besitzt, nach dieser Definition zu den "Lohnsklaven" gehört.

Grundstein der marxistischen Geschichts"wissenschaft" ist die Aufteilung aller jemals existenten Gesellschaftsformen (ausser der fiktiven "Urgesellschaft") in zwei um die Vorherrschaft kämpfende Klassen:

Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.[4]
Diese Konstruktion eines existentiellen, die ganze Gesellschaft tendenziell auseinanderreissenden Interessen-Antagonismus zweier konkurrierender gesellschaftlicher "Klassen" ist ein typisches Beispiel für eine simplifizierende Schreibtischidee: Das komplizierte Zusammenspiel von Kräften, die für den Erhalt einer Gesellschaft nötig sind, wird auf einen Gegensatz von nur zwei "Klassen" reduziert, die man obendrein durch ein einziges ökonomisches Attribut sehr bequem definieren kann und deren Auseinandersetzungen den Schlüssel zur Erklärung der Geschichte liefern - fertig ist die schicke Theorie.

Dabei soll nicht die Selbstverständlichkeit bestritten werden, dass es Interessenverbände gibt - von Angestellten, von bestimmten Berufsgruppen, von Unternehmern - die für ihre Mitglieder Lobbyarbeit betreiben.

Solange es sich aber nur um Lobby-Arbeit, also ein Austarieren von Interessen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, nicht aber um einen existentiellen Kampf zwischen zwei Klassen handelt, verliert auch die Prognose ihre Grundlage, dass dieser (konstruierte) Antagonismus sich zuspitzen und die Gesellschaft im Ergebnis fortgesetzter Klassenkämpfe endlich dazu bringen werde, die freiheitlich-marktwirtschaftliche Ordnung als ein zu eng empfundenes Kleid abzustreifen und durch eine neue Form zu ersetzen: die sozialistische Produktionsweise.

Bewegungsgesetze der Geschichte

Marx und Engels bezeichneten ihre Geschichts- und Gesellschaftsbetrachtungen als wissenschaftlichen Sozialismus. Die Berufung auf Wissenschaftlichkeit bedeutete in einer Zeit des Positivismus den Anspruch auf besondere Autorität: Was "die Wissenschaft festgestellt hat", galt als zu akzeptierende Wahrheit – weit jenseits des persönlichen Meinens oder des Streits zwischen verschiedenen Denkschulen. Die marxistische "Wissenschaft" beanspruchte nicht weniger als: die Bewegungsgesetze der Gesellschaft in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft enthüllt zu haben. Ein solcher Anspruch ist von einer grössenwahnsinnigen Anmassung, ja er ist geradezu lächerlich. Eine in ihre legitimen Grenzen verwiesene Wissenschaft hat einen klaren Gegenstandsbereich und macht keine Totalaussagen über Mensch, Gesellschaft, Geschichte.

Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs' noch Esel auf - dieser schlichte Slogan fasst den Glauben an die "Bewegungsgesetze der Geschichte" zusammen. Unaufhaltsam führt uns der dialektische Prozess des Klassenkampfes zum Ziel der Geschichte: hin zu einer edlen, gerechten Welt, frei von jeglicher Diskriminierung, durch und durch offen und tolerant, solidarisch, bis ins Mark friedlich – und von Herzen gut. Bis heute sehen sich selbst Menschen, die mit Marxismus gar nichts am Hut haben, im Dienst dieser naiven Vision.

Dabei war sich Marx durchaus der Begrenztheit von Wissenschaft bewusst und war ein entschiedener Gegner des Positivismus. Nur lagen die Begrenzungen der Wissenschaft für ihn nicht etwa im allgemeinen Zeitgeist, nicht in zeitlichen oder kulturellen Denkvoraussetzungen, denen jede Wissenschaft als Teil der Gesellschaft verhaftet ist, sondern im Klassenstandpunkt: Eine zweckfreie, ergebnisoffene, nur an der Erforschung der Wirklichkeit interessierte Wissenschaft gibt es für Marx nicht - eine solche existiere nur in der Einbildung des Subjekts. Wissenschaft sei immer Wissenschaft für eine Klasse, im Dienste einer Klasse. Im Gegensatz zur "bürgerlichen" Wissenschaft, die von den Kathedern der Universitäten gelehrt werde, stünde sein wissenschaftlicher Sozialismus im Dienste der Arbeiterklasse.

Das bedeutet in heutiger Sprache: Seine "Wissenschaft" hat eine Agenda. Der Verstand steht nicht mehr im Dienste der Erkenntnis dessen, was ist, sondern wird nur benutzt, um bestimmte Interessen und politische Ziele argumentativ zu untermauern. Das ist das Ende der wissenschaftlichen Forschung – es ist keine Forschung mehr, sondern Ideologie. Zur Wissenschaft gehört nämlich - wenigstens als Zielvorstellung - das Bemühen um eine wirklichkeitsgemässe Erkenntnis.

Teleologie - vom Endpunkt der Geschichte

Weit verbreitet ist heute Rousseaus Schreibtischkonstruktion eines paradiesischen, "unverdorbenen" Naturzustandes vor dem Anfang unserer Zivilisation — einer Gesellschaft, in der die berühmten edlen Wilden lebten, frei von Herrschafts- und Besitzansprüchen:

Der erste, der ein Stück Land mit einem Zaun umgab und auf den Gedanken kam zu sagen "Dies gehört mir" und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der eigentliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wieviel Elend und Schrecken wäre dem Menschengeschlecht erspart geblieben, wenn jemand die Pfähle ausgerissen und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: "Hütet euch, dem Betrüger Glauben zu schenken; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass zwar die Früchte allen, aber die Erde niemandem gehört." [14]

Das sind kräftige Worte, die ohne Frage Eindruck machen. Aber die Annahme einer solchen harmonisch-friedlichen Urgesellschaft ist historisch durch keine Fakten begründet. Die Sätze machen nur deshalb so viel Eindruck, weil sie eine archetypische religiöse Denkfigur ins rein Irdische ziehen - das Bild vom Paradiesesgarten und vom Sündenfall. Rousseaus Pseudohistorie vom edlen Wilden hat nur insoweit Kraft, als sie an diesen religiösen Archetypus anknüpft, von ihm entlehnt ist.

Marx teilt die Rousseausche Auffassung - am Anfang der Zivilisation stand die klassenlose "Urgesellschaft" als ein Alpha - und ergänzt sie um einen Zielpunkt der Geschichte, die klassenlose kommunistische Gesellschaft, als das Omega der menschlichen Entwicklung. Dass solche realitätsfremden Projektionen, denen der Kitsch aus allen Poren trieft, jemals zu einer relevanten Grösse im politischen Diskurs werden konnten, hat mit der Verdrängung des religiösen Denkens zu tun. In verlassenen Tempeln hausen die Dämonen, sagt eine alte Weisheit. Wir erkennen in diesen Konstrukten die religiösen Topoi der Vertreibung aus dem Paradies, der Erbsünde und der Rückkehr ins Paradies am Ende der Zeiten. Hier wurden Bilder aus dem spirituellen Kontext, in dem allein sie Bedeutung und Tiefe besitzen, herausgerissen und auf das Gebiet der menschlichen Geschichte projiziert.

In der säkularen, ihres transzendenten Kerns beraubten Pseudoreligion ist dies das armselige Relikt einer Eschatologie (einer Lehre von den "letzten Dingen").

Basis / Überbau und Materialismus

Der Materialismus bildet die philosophische Grundlage des Marxismus: Der Glaube, dass nur Stoffen wahre Existenz zukommt, allem anderen, insbesondere dem menschlichen Geist, nur eine scheinbare. Auf die Gesellschaft übertragen, wird nur die Sphäre der materiellen Produktion als real angesehen, als "Basis". Alles darüber Hinausgehende: alle kulturellen, religiösen, geistigen Phänomene sind nur "Überbau", nur Widerspiegelung der jeweiligen materiellen Reproduktionsbedingungen einer Gesellschaft.

Das schliesst die Existenz absoluter Wahrheiten aus: Absolut ist in dieser Weltsicht allenfalls die Materie, weil ihr als einziger wahre Existenz zukommt. Alles andere ist von relativer Gültigkeit. Wenn Kultur und Religion nur Reflexe der gesellschaftlichen Reproduktionsbedingungen sind, sind all ihre Lehren und Ergebnisse durch eben diese Bedingungen begrenzt. Es gibt keinen objektiven, von der gesellschaftlichen Realität abstrahierten Begriff von Gut und Böse oder von Wahr und Falsch. Der einzelne Mensch wähnt sich nur frei, er ist "in Wahrheit" (hier also doch "in Wahrheit"!) nur das Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse und/oder seiner Gehirnchemie.[1]

Nun lässt sich weder der Materialismus noch die Ansicht beweisen, unser Handeln, das wir unmittelbar als ein freies erleben, sei in Wirklichkeit gar nicht frei, sondern durch die Materie bestimmt. Die Beweislast liegt bei denen, die so etwas behaupten, da es im Widerspruch zur unmittelbaren Wahrnehmung steht: Unmittelbar erleben wir Geist und Materie als Realitäten, und unmittelbar erleben wir uns selbst als frei. Wie die Dinge stehen, handelt es sich beim Materialismus um eine reine Glaubenssache, die, wenn sie den Anspruch erhebt, mehr als ein Glaube zu sein, Beweise schuldig bleibt.

So ist auch der viel gepriesene Satz Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein in seiner strengen Form ("bestimmt"), als materialistischer Determinismus, eine reine Glaubenssache. Die abgeschwächte Form aber, das gesellschaftliche Sein modifiziere das Bewusstsein, unser Denken sei somit im allgemeinen der Zeit verhaftet, wäre eine Selbstverständlichkeit, für die der Marxismus keine Originalität beanspruchen kann.

Progressismus

Unter Progressismus verstehe ich im Politischen die zwanghafte Idee, die Gesellschaft müsse immer weiter "fortschreiten", wobei alles Bestehende immer unter Rechtfertigungsdruck durch den Vergleich mit einem erdachten utopischen Endzustand der Gesellschaft steht. Die totalitären Regimes des 20. Jahrhundert ergriffen unter dem Banner des Fortschritts die Macht: Ihre Parteien verkündeten eine bevorstehende glorreiche, endlich menschenwürdige Zukunft. Im Namen dieser zu erwartenden glorreichen Zukunft mußten vom Volk gewaltige Opfer gebracht werden - das hatten die weisen Führer der Parteien herausgefunden, und es war ihnen wichtig, diese Botschaft dem Volk zu vermitteln. Nur kam man trotz all der Opfer dem angestrebten Gesellschaftszustand nicht näher. Stattdessen bildeten, wo immer sich Progressisten an der Macht befanden, blutige Schreckensherrschaften heraus, die selbst längst für unaufgebbar gehaltene zivilisatorische Mindeststandards über Bord warfen. Das 20. Jahrhundert ist eine grausame experimentelle Bestätigung des Hölderlinschen Satzes "Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, dass ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte."[2]

Natürlich und unbestritten verändern sich Gesellschaften im Laufe der Zeit. Aber im Unterschied zur blossen Veränderung enthält der Begriff des Fortschritts eine Wertung. Die Kriterien, nach denen diese Wertung vorgenommen wird, sind selbst zeitbedingt, der Veränderung unterworfen und werden denknotwendig aus einer Zielvorstellung abgeleitet. Diese Zielvorstellung ist für politische Kräfte, die sich als progressiv sehen, eine märchenbuchartige, naive Idee vom Endzustand der Gesellschaft. So unscharf diese auch sei - was zuweilen auch zugegeben wird: umso energischer gelte es, auf ihre Verwirklichung hinzuarbeiten.

Nur auf Basis dieses Kitschglaubens werden die konkurrienden politischen Kräfte in "fortschrittliche" und "reaktionäre" aufgeteilt, wie es auch heute noch gang und gäbe ist, weil wir es unkritisch verinnerlicht haben. Wenn die Gesellschaft sich nach eherner Gesetzmässigkeit in Richtung auf eine glanzvolle Zukunft weiterbewegt, muß schon der Standpunkt als rückschrittlich und letztlich gefährlich angesehen werden, bewährte und über die Jahrhunderte gewachsene tragende Merkmale der Gesellschaft zu erhalten, statt sie bereitwillig der glanzvollen Zukunftsvision zu opfern. Um die von den "Reaktionären" ausgehende Gefahr zu bannen, dürfen, ja müssen die gefährlichen Meinungen durch erzieherische Massnahmen unterdrückt werden.

Im Lichte des erwarteten Paradiesesglücks kann grundätzlich alles Bestehende nur als unzulänglich beurteilt werden und ist daher prinzipiell zum Abschuss freigegeben. Sämtliche Mechanismen, Regeln (auch ungeschriebene), Tabus, Zusammenhänge, die in einem historisch gewachsenen, filigranen Zusammenspiel den Istzustand der Gesellschaft konstituieren, dürfen kritisiert, hinterfragt, ausser Kraft gesetzt, abgeschafft werden. Gerechtfertigt ist dies immer durch das höhere Ziel.

Es ist wichtig festzuhalten, dass der Begriff "fortschrittlich" in sich immer eine Richtung und ein Ziel enthält, woraufhin fortgeschritten wird. Wer dieses Ziel bestreitet und sich dem durch das Ziel definierten Fortschritt entzieht, ist ein gefährlicher Fortschrittsfeind, ja Menschheitsfeind, den es – im Namen der Menschheit! – mit allen Mitteln zu unterdrücken gilt. Die Geschichte zeigt, dass die "Progressiven" seit der Französischen Revolution wirklich alle Mittel anwandten - bis hin zur physischen Vernichtung der Opponenten. Der Völkermord in der Vendée (1793-1796) kann als grausamer Prototyp der Genozide des 20. Jahrhunderts betrachtet werden. Er zeigte schon zu Beginn, zu welchen Exzessen der Wahnglaube führt, einen von Intellektuellen erdachten finalen Idealzustand der Gesellschaft verwirklichen zu können.

Schöner herrschen mit Dialektik: mit Methode aus Schwarz Weiß machen

Wie das 20. Jahrhundert gezeigt hat, ist der Marxismus vor allem eine ideale Herrschaftsideologie für totalitäre Systeme. Der kostbare Gipfel- und Schlusspunkt der Theorie ist für jeden Herrscher dabei der Kunstgriff der dialektischen Methode, laut Friedrich Engels

unser bestes Arbeitsmittel und unsere schärfste Waffe.[5]
Die dialektische Methode ermöglicht es den Herrschenden, beliebige Entscheidungen zu treffen und diese zugleich ideologisch zu legitimieren. Nirgendwo ist der biblische Geist der Lüge, der die Welt beherrscht (1 Joh. 4,4) klarer erkennbar als in dem intellektuellen Spielchen namens marxistischer Dialektik.

Das Grundbedürfnis eines Diktators ist die absolute Handlungsfreiheit. Um seine Macht wirklich zu geniessen, darf er nicht etwa selbst nur als Sklave eines geistigen Systems operieren, sondern muß heute und morgen Hott sagen können, ganz wie es ihm beim Aufstehen gerade beliebt. Das Volk aber soll in all diesen s und Hotts die grenzenlose Weisheit seines Führers bewundern.

Diesem Bedürfnis des Diktators kommt die marxistische Dialektik wunderbar entgegen. Wenn bei der Revolution die Enteignung aller Bürger gefordert wird, danach aber Lenin und Bucharin das Volk mit der Parole Bereichert euch! zum marktwirtschaftlichen Wettbewerb auffordern, woraufhin Stalin dies alles annulliert und die zwangsweise Enteignung aller Kulaken anordnet, wenn die Deutschen heute zum Freund, morgen zum Feind erklärt werden — so liefert die dialektische Methode für all diese disparaten Kurswechsel und - natürlich nur "scheinbaren" - Widersprüche die "wissenschaftliche" Grundlage.

Auch Marx selbst hat die dialektische Methode in diesem Sinne eingesetzt - wie die folgende Passage aus einem Brief an Engels belegt:

Es ist möglich, dass ich mich blamiere. Indes ist dann immer mit einiger Dialektik wieder zu helfen. Ich habe natürlich meine Aufstellungen so gehalten, dass ich im umgekehrten Fall auch recht habe.[7]

Revolution und "Völkerabfälle"

In dem Versuch, Marx als grossen Denker und Philosophen zu retten, schiebt man ihm so allerhand unter. Gelegentlich hört man etwa, seine Philosophie sei "eigentlich gut und gewaltfrei", mit Revolution habe Marx nichts zu schaffen gehabt. Spätere böse Gewaltherrscher hätten seine an sich guten Ideen nur korrumpiert.

Die contradictio in adiecto eines "gewaltfreien Marxismus" verbindet zwei gleich utopische, gleich realitätsferne Konzepte, die zueinander in schärfstem Gegensatz stehen. Marx war stets ein Befürworter von Gewalt und Terror, er sah die Gewalt als Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit der neuen schwanger geht.[8]

Wir haben es von Anfang an für überflüssig gehalten, unsere Ansicht zu verheimlichen. Wir sind rücksichtslos, wir verlangen keine Rücksicht von euch. Wenn die Reihe an uns kommt - wir werden den Terrorismus nicht beschönigen.[9]
Und am Schluss des programmatischen Kommunistischen Manifests heisst es:
Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung.[12]
Besonders gefährlich sind auch die Auslassungen von Marx und Engels über ethnische Minderheiten, die sie für vernichtenswerte Völkerabfälle halten. Sie wurden als Handlungsanweisungen ernstgenommen.[16]
Es ist kein Land in Europa, das nicht in irgendeinem Winkel eine oder mehrere Völkerruinen besitzt, Überbleibsel einer früheren Bewohnerschaft, zurückgedrängt und unterjocht von der Nation, welche später Trägerin der geschichtlichen Entwicklung wurde. Diese Reste einer von dem Gang der Geschichte, wie Hegel sagt, unbarmherzig zertretenen Nation, diese Völkerabfälle werden jedesmal und bleiben bis zu ihrer gänzlichen Vertilgung oder Entnationalisierung die fanatischen Träger der Kontrerevolution, wie ihre ganze Existenz überhaupt schon ein Protest gegen eine große geschichtliche Revolution ist.[11]
Wenn man diese Gewaltverherrlichung liest – die sich nicht in vereinzelten Zitaten widerspiegelt, sondern zum Fundament des Marxismus gehört – kann man nicht behaupten, die national- und internationalsozialistischen Systeme des 20. Jahrhunderts hätten Marx nur falsch interpretiert. Nach so vielen gescheiterten Versuchen sollte man vielmehr daran gehen, das System als solches beiseite zu legen, statt es immer wieder zu retten und nach den "guten Teilen" seiner Theorie zu suchen.

Zusammenfassend müssen wir Stanislav Lem zustimmen, der einmal sagte [13]:

Die Tragik des 20. Jahrhunderts liegt darin, daß es nicht möglich war, die Theorien von Karl Marx zuerst an Mäusen auszuprobieren.


[0] Strenggenommen hat eine nutzlose Ware, für deren Besitz sich niemand interessiert, überhaupt keinen Preis, da es zu keinem Kaufakt kommt.
[1] Der Widerspruch schimmert überall durch, wenn es bei dieser Weltsicht "in Wahrheit" heisst und doch zugleich eine solche Wahrheit, ja die Möglichkeit der objektiven Erkenntnis von Wahrheit, geleugnet wird.
[2] Friedrich Hölderlin, Hyperion, Projekt Gutenberg, S. 35.
[3] Karl Marx, Das Kapital, Band 1, MEW 23, S. 674 f.
[4] Karl Marx, Manifest der Kommunistischen Partei, Verlag für fremdsprachige Literatur, Peking 1975, S.32.
[5] Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, MEW 21,275
[6] J.W. v. Goethe, Maximen und Reflexionen 575, Sprüche in Prosa 165, dtv Gesamtausgabe 21, 2. Auflage (1968), S.69.
[7] Karl Marx, Brief an Engels (1857), MEW 29, S. 161.
[8] Karl Marx, Das Kapital, Band I, MEW 23, S. 779.
[9] Karl Marx, MEW 6, S. 504. Siehe auch http://www.freiwilligfrei.info/archives/4576
[11] Friedrich Engels, 1849, MEW 6, S. 172.
[12] Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, a.a.O. S. 77.
[13] Stanislaw Lem, Jede Entgleisung möglich. Interview in: DER SPIEGEL 44/1995, S. 152b.
[14] Jean-Jacques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit. UTB, 2008, S. 173.
[15] Stéphane Courtois et al: Le livre noir du communisme - Crimes, terreur, répression. Paris 1997.
[16] Der Film Die Sowjet-Story von Edvīns Šnore dokumentiert nicht nur, was für schauerliche Wirkungen politische Ideologien haben können, sondern auch die innere, ideologische Verwandtschaft und die historischen Verflechtungen von Nationalsozialismus und Bolschewismus. Zur ideologischen Analyse dieser Gemeinsamkeiten siehe auch das Buch Liberal Fascism von Jonah Goldberg.

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