Samstag, 2. Juli 2016

Muss Freiheit vor Demokratie Angst haben?

In einer Diskussion auf Twitter wurde mir folgender Einwurf von Friedrich August von Hayek als Mem zugesandt:

Da dieses Argument weit verbreitet ist und ich mich darin als der "dogmatische Demokrat" angesprochen fühle, schaue ich es mir gerne einmal genauer an.

Das Argument hat im Kern drei Mitspieler:

  1. Kostbare Werte, nämlich das nicht ausgesprochene Gegenstück zu der am Schluss des Arguments angeführten "willkürlichen Gewalt": warum nämlich ist die "willkürliche Gewalt" nicht gut? Weil sie etwas der Willkür Enthobenes bedroht, etwas, das durch Mehrheitsbeschluß nicht außer Kraft gesetzt werden soll. Dieses Etwas nenne ich der Einfachheit halber die "kostbaren Werte".

    Wir gehen bei von Hayek nicht fehl, bei diesen "kostbaren Werten" an gewisse universelle Rechte wie Leben, Eigentum und Freiheit zu denken, die der Staat im Interesse der Bürger immer und grundsätzlich zu schützen habe.

  2. Der Staat, der über die Einhaltung der kostbaren Werte wachen muss, im Dienste des Volkes.

  3. Das Volk, das seine Staatsbediensteten als Delegierte seines Willens ernennt, um gemeinschaftliche Aufgaben, die das ganze Volk betreffen, zu regeln - insbesondere um über die kostbaren Werte zu wachen.
Das Argument lautet nun:
  • Demokratie bedeutet: die Mehrheit des Volkes entscheidet unbedingt.
  • Dann kann das Volk auch die Abschaffung der kostbaren Werte entscheiden, insbesondere des Prinzips der Demokratie selbst.
  • Damit gerät die Demokratie mit sich selbst in Widerspruch.

    Also muss der Staat die kostbaren Werte ggf. auch gegen den Volkswillen durchsetzen.

Das Ideal der Demokratie ist demnach in sich nicht konsequent, da es zumindest potentiell seine eigene Selbstaufhebung enthalten kann: die Wähler könnten mehrheitlich beschließen, die Demokratie abzuschaffen. Also, schließt Hayek, darf es nicht rein, nicht "dogmatisch" gelebt werden, sondern muß ergänzt werden.

Und zwar wie?

Das folgt implizit: wenn die Demokratie alleine nicht genügt, muß sie durch nicht-demokratische Herrschaft ergänzt werden. Der Staat muß demnach die Möglichkeit haben, gegen den Willen des Volkes zu handeln, wenn dieser Volkswille nach Einschätzung der Staatsbediensteten den kostbaren Werten widerspricht.

Dieses Risiko besteht in jeder Herrschaftsform

Grundsätzlich ist den Prämissen des Arguments zuzustimmen. Selbstverständlich kann der Inhaber der Macht sich gegen das Prinzip entscheiden, aufgrund dessen er an der Macht ist. Aber das gilt nicht nur für die Demokratie, sondern ebenso für jede andere Herrschaftsform. Auch der Monarch oder Tyrann kann zurücktreten und sein gesamtes Herrschaftssystem zugunsten eines anderen preisgeben. Eine Räterepublik kann sich für ihre Selbstabschaffung zugunsten einer parlamentarischen Demokratie entscheiden, und umgekehrt. Dagegen gibt es keine Garantie.

Jede Herrschaftsform steht grundsätzlich unter dem Vorbehalt ihrer potentiellen Selbstabschaffung. Das ist kein Wesensmerkmal speziell der Demokratie, sondern ein allgemeines Merkmal menschlicher Organisation. Wir sind gar nicht in der Lage, ein Herrschaftssystem mit Ewigkeitsgarantie aufzustellen.

Wenn wir diesen grundsätzlichen Einwand akzeptieren, verbleiben wir nur noch mit der Frage: wie lässt sich die menschliche Organisation am besten gestalten, so dass dass, was den Menschen kostbar ist, am wenigsten gefährdet ist? Auf diese Frage gibt das Argument aber keine Antwort. Es suggeriert nur unausgesprochen, eine Mischung aus demokratischen und nicht-demokratischen Herrschaftselementen würde die kostbaren Werte besser absichern.

Darüber aber lässt sich trefflich streiten, denn alles hängt von der Qualität dieser nicht-demokratischen Herrschaftselemente ab, deren Legitimation immer durch das Juvenalische quis custodiet custodes – wer überwacht die Bewacher? – in Frage gestellt ist. Teilhaber an der Macht, die nicht dem Volkswillen verpflichtet sind, können ein noch viel größeres Risiko für die kostbaren Werte darstellen als demokratisch legitimierte Staatsbedienstete es je sein könnten.

Damit könnte ich diesen Blogpost beenden, denn es ist alles gesagt, was sich rein logisch zu diesem Argument sagen lässt: Die Prämissen stimmen, die Schlussfolgerung nicht: eine Herrschaftsform kann man auch dann unterstützen, wenn sie unter dem Vorbehalt steht, sich potentiell selbst abschaffen zu können - vor allem, weil dies ebenso für jede andere Herrschaftsform gilt.

Das Argument ist aber vor allem deshalb interessant, weil es unterschwellig bestimmte Bilder über das Volk, den Staat und die kostbaren Werte transportiert, die es aufzuschlüsseln lohnt.

Daher endet dieser Blog hier noch nicht. Stattdessen will ich diese unterschwelligen Bilder noch sichtbar machen.

Das Volk: ein Pöbelhaufen, vor dem der Liberale sich fürchten muss?

Das Argument stellt statt des - nur allzu berechtigten - Misstrauens gegen die Machtinhaber (die Wächter, die die kostbaren Werte durchsetzen sollen, aber als Inhaber von Macht der Kontrolle bedürfen) das Misstrauen gegen das Volk in den Vordergrund, wechselt also die Perspektive: statt vom Volk aus kritisch auf das von ihm erschaffene und in Dienst gesetzte Organ "Staat" zu schauen, wird vom Staat aus mißtrauisch auf das Volk geschaut.

Damit dieser Perspektivwechsel beim Leser ankommt, muss das Volk als eine amorphe, beliebigen Launen und Moden gegenüber anfällige Masse gezeichnet werden, vor dem man sich als ordentlicher Liberaler, der sein Leben mit Grundsätzen lebt, zu fürchten habe: alle diese Grundsätze würden durch den nächsten Volksentscheid wieder zur Disposition gestellt. Daher müsse man diese Grundsätze mit institutionell abgesicherter Macht gegen das Volk durchsetzen.

Ein von Hayek denkt natürlich immer auch an die Wirtschaft: Unternehmen brauchen Planungssicherheit. Das Volk kann ihnen da einen Strich durch die Rechnung machen. Nur kann dies ein Monarch eben genausogut, wie wir schon festgestellt haben. Und die Laune eines einzelnen Monarchen kann sich noch viel verheerender auswirken als die über die Gesellschaft ausgemittelten Launen aller ihrer Mitglieder. Dasselbe gilt für alle nicht demokratisch legitimierten Machthaber, auch wenn sie voll auf Hayekscher Linie die von ihm erkannten kostbaren Werte durchzusetzen versprechen.

Die Herrschaft von Menschen, die keiner demokratischer Kontrolle unterstehen, ist immer ein viel grösseres Einfallstor für die menschliche Willkür als die Volksherrschaft selbst.

Hat ein Demokrat keine eigenen Prinzipien?

Aber wenn Du nur für die amorphe Masse "Volk" sprichst, hast Du doch keine eigenen Prinzipien! Wenn das Volk heute so und morgen so entscheidet und Du diese Herrschaftsform gutheißt, mußt Du eigentlich ein Nihilist sein, denn Du selbst hast ja dann nichts, wofür Du stehst!

Auch dieser Vorwurf, der unterschwellig mittransportiert wird, ist falsch. Selbstverständlich hat der Demokrat eigene Überzeugungen, für die er kämpft und wirbt. Das können auch Ansichten sein, die nicht von der Mehrheit geteilt werden. Der Demokrat sieht nur keine andere legitime Möglichkeit dafür, seine Ansichten allgemein durchzusetzen, als die, eine Mehrheit für sie zu gewinnen.

Umgekehrt bejubelt der Demokrat, nur weil er Demokrat ist, nicht jeden Entscheid des Volkes. Die Mehrheit hat selbstverständlich nicht immer recht. Wenn die Mehrheit entscheidet, daß 2 + 2 gleich 5 ist, ist das noch lange nicht wahr. Aber: die Gefahr, daß der Große Bruder über seine Medien verlautbaren lässt, daß 2+2=5 sei, ist eine viel größere! Im Vergleich zu allen anderen Herrschaftsformen ist die Volksherrschaft in den Augen des Demokraten der risikoärmere Weg, um das für die Gesellschaft Richtige zu ermitteln. Dies gilt zumindest so lange, wie ein offener, freier Diskurs zwischen allen in der Gesellschaft kursierenden Ansichten möglich ist.

Und an dieser Stelle ist die Demokratie mit den Freiheitsrechten grundsätzlich verwoben. Um auf demokratischem Wege das jeweils Richtige ermitteln zu können, muss Meinungsfreiheit herrschen. Die Freiheit muß sich also nicht von der Demokratie bedroht fühlen - im Gegenteil, sie ist ein wichtiger Bestandteil gelebter Demokratie.

Wird Demokratie durch Manipulierbarkeit der Menschen in Frage gestellt?

Der offene, auch der polemisch zugespitzte, mit harten Bandagen geführte Diskurs, um die eigene Position zu verdeutlichen, ist das Lebenselixier der Demokratie. Fehlt dieser oder wird er - wenigstens in den Hauptstrommedien - erschwert oder vereinseitigt, kann Demokratie nicht richtig funktionieren. Die demokratische Urteilsbildung wird erheblich erschwert. Der Staat kann sich auf einen falschen Kurs begeben, und es kommt keine Gegenkraft zustande, um den Kurs zu korrigieren.

Man lebt dann gewissermaßen in der Lüge, lebt ein falsches Leben. Ich glaube aber nicht, dass die Menschen beliebig, dauerhaft und unbegrenzt manipulierbar sind. Irgendwann wachen sie auf aus der Lüge, reiben sich die Augen, rufen "Der Kaiser ist ja nackt!" - und stellen wieder wahrhaftigere Verhältnisse her.

Wer Menschen für beliebig manipulierbar hält, denkt zu schlecht über sie, hält sie für reine Opfer, mit denen man machen kann, was man will. (Und wer ist eigentlich dieser man? Ist dieser man aus anderem Holz geschnitzt?) Ein fragwürdiges Menschenbild.

Es ist ein Erbe linken Denkens, den Menschen für beliebig formbar zu halten. Das ist falsch. Der Mensch ist nicht beliebig formbar, sondern hat eine Substanz, die sich im wesentlichen gleich bleibt. Vergeßt das Zuchtprojekt des "Neuen Menschen!" Es wird ihn nicht geben. Findet euch lieber mit dem Menschen ab, wie er nun einmal ist.

Zu seiner Ausstattung gehören aber nicht nur Aggression, Machtwille, Neid, Rachsucht, Eifersucht und Krieg. Gott sei Dank (im wahrsten Sinn des Wortes) ist ihm auch ein Erkenntnisorgan für das Wahre (sein Verstand) und das Gute (sein Gewissen) eingebaut. Auch dies bleibt, und darauf wird er sich immer wieder zurückbesinnen, bei allen Abirrungen. Es ist ein eingebauter Kompass. Die Kompassnadel kann gestört werden, aber nicht dauerhaft. Wo er - gezwungen oder freiwillig - gegen seine Natur lebt - und gegen das, was ihm seine innere Stimme als das Wahre und das Gute zu erkennen gibt - wird das Wahre und Gute irgendwann wieder hervorbrechen und die Normalität wiederhergestellt.

Das gilt für einzelne wie für Völker. Sie können Ausflüge in den Wahn unternehmen, aber ihr eigenes Gespür für das Wahre und Gute wird sich letztlich durchsetzen, sonst wird die Wirklichkeit sie korrigieren - und im schlimmsten Fall: zerstören. Wer unbedingt gegen die Wand laufen will, holt sich eine Beule und wird es in Zukunft (hoffentlich) nicht mehr tun.  

Ein Wagnis bleibt es natürlich - aber das gilt, wie gesagt, nicht nur für eine demokratische, sondern für eine beliebig verfasste Gesellschaft, für Gesellschaft schlechthin. In der Demokratie sind nur die Chancen für eine Kurskorrektur besser.

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