Sonntag, 12. Februar 2017

Über direkte Demokratie

Der Staat - Obrigkeit oder Instrument des Volkswillens?
Volksentscheide
Herrschaft, Macht und Volksherrschaft
Die Systemfrage
Die Gefahren des Machtmißbrauchs
Gewaltentrennung
Die unpolitische Masse
Subsidiarität
Vox Populi: Vox Dei oder Vox Rindvieh?
Populisten und Demagogen
Demokratie und Multikulti
In die Demokratie eingebaute Verfallsfaktoren
Fazit

Der Staat - Obrigkeit oder Instrument des Volkswillens?

Wer als Deutscher einige Zeit in der Schweiz lebt, der spürt unmittelbar, daß die Schweizer im allgemeinen ein besseres Verhältnis zu ihrem Staat haben als die Deutschen - es lebt in ihrem Bewusstsein, daß ihr Staat etwas ist, das sie sich leisten und der in seiner konkreten Ausprägung ihrem gemeinsamen Willen unterworfen ist.

Dagegen fühlen sich Deutsche einer Obrigkeit unterstellt, die, selbst wenn sie sie wählen, nicht in ihrem Dienst steht, sondern ihnen als eine potentiell feindliche Gruppe gegenübersteht. Dasselbe Gefühl, nur von der anderen Seite, haben auch deutsche Politiker: obwohl allein durch Wahlen, also vom Volk legitimiert, fühlen sie sich vor dem Volk durch einen besonderen Sachverstand und ein besonders hohes Verantwortungsbewußtsein ausgezeichnet; je weiter sie in der Hierarchie nach oben gelangen, umso mehr glauben sie, einer Schicht anzugehören, deren Interessen antagonistisch zu denen ihres Volkes sind. Exemplarisch wird das im Ausspruch des Bundespräsidenten Gauck deutlich: Die Eliten sind gar nicht das Problem, die Bevölkerungen sind im Moment das Problem.

Volksentscheide

Mir erscheint das Verhältnis der Schweizer zu ihrem Staat als das gesündere; es mag eine Reihe historischer Gründe für diesen Unterschied geben – ein wichtiger Grund liegt aber sicher darin, daß in der Schweiz auf Bundesebene über politische Schicksalsfragen abgestimmt werden kann. Diese direkte Einflussmöglichkeit fördert das Bewußtsein, daß dieser Staat ihr Projekt ist und es um ihre eigenen Interessen geht.

Das legendäre Nein des Schweizer Volkes zum EWR-Beitritt (am 6. Dezember 1992) - wenn auch mit einer unglaublich knappen Mehrheit - zeugt, rückblickend gesehen, von einer grandiosen Weitsicht. Von Sorge um das Wohl des Schweizer Volkes getragen sind auch die Abstimmungen über die Begrenzung der Religionsausübungsfreiheit (in Deutschland schrankenlos gemäss Art.4(2) GG) durch das Minarettverbot (am 29. November 2009) – eine deutliche Abgrenzung vom Islam – und die Rückkehr zum Einwanderungsreglement von vor 2007, also mit Kontingenten und Höchstzahlen (die Masseneinwanderungsinitiative (MEI) vom 9. Februar 2014, auch wenn die Umsetzung dieses Volksentscheides von der politischen Klasse sabotiert wurde, was zugleich ein Durchsetzungsproblem der direkten Demokratie aufwirft).

Dem kann man in Deutschland als ein Beispiel von vielen die Einführung des Euro am 2. Mai 1998 entgegenhalten: sie geschah gegen den Willen des deutschen Volkes, und die Regierung wusste das. Kanzler Helmut Kohl sagte rückblickend in einem Interview: Bei der Einführung des Euro war ich wie ein Diktator... Eine Volksabstimmung über die Einführung des Euro hätten wir verloren... und zwar im Verhältnis 7 zu 3. [1] Auch hier muß man dem Volk einen größeren Weitblick als seinen Eliten attestieren: die Geschichte Deutschlands und Europas wäre sicher ganz anders verlaufen ohne diese desaströse EU-Währung und den Versuch, die Völker Europas von der Wirtschaft her, mit dem Hilfsmittel einer Währung, von oben zu einem neuen Kunstvolk nach dem Vorbild der USA zusammenzuschweißen.

Herrschaft, Macht und Volksherrschaft

Max Weber lehrte uns, Macht von Herrschaft zu unterscheiden: während Macht die Chance bedeutet, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht, bedeutet Herrschaft die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden. [2] Der "soziologisch amorphen" Macht steht die in einem historischen und sozialen Kontext gegründete Herrschaft gegenüber. Vereinfacht gesagt, ist Herrschaft gewollte Macht: die Menschen, die bereit sind, dem Herrschaftsinhaber Gehorsam zu leisten, haben dabei das Wohl eines gemeinsamen Ganzen im Auge - ihres Volkes, in dem ihre Eigenexistenz und ihre Einzelperson verankert sind: damit das Volk blühen und gedeihen kann, müssen gewisse kollektive Aufgaben im Interesse aller geregelt werden.

Seit der Zeit der Aufklärung wurde es Mode zu glauben, alle Herrschaft vor dem Aufkommen der modernen parlamentarischen Demokratien wäre illegitim, nicht wirklich vom Volk gewollt gewesen. Das ist naiv. Selbstverständlich war auch die Herrschaft der Könige und Fürsten nicht bloß Macht, sondern Herrschaft im Weberschen Sinne. Ich hatte das bereits in meinem Blogpost Gewollte Herrschaft ausgeführt.

Die Systemfrage

In einem intellektualistischen Zeitalter neigen wir dazu, die Frage nach dem konkreten Herrschaftssystem überzubewerten. Seit Platos Politeia-Träumereien war es eine grosse Versuchung für Intellektuelle, den ganzen Staatsaufbau idealerweise aus einigen einfachen Prinzipien herzuleiten und die Gesellschaft aus der als richtig erkannten Idee heraus neu zu formen.

In Abwandlung von Wilhelm Busch könnte man formulieren

(...)
Im Durchschnitt ist man kummervoll
und weiß nicht, was man machen soll.

Nicht so der Intellektuelle: kaum mißfällt
ihm diese altgebackne Welt,
so knetet er aus weicher Kleie
eine einwandfreie neue.

Das ist eine ungesunde Übertreibung des Theoretischen - mehr noch, es ist eine Hybris, die überall dort, wo sie sich Geltung verschaffen konnte, gewaltige Verheerungen angerichtet hat. Denn politische Systematiker haben die Neigung, gewachsene und eingespielte soziale Strukturen, auf denen das Funktionieren der Gesellschaft gründet, ohne viel Federlesens abzuschaffen, wenn sie nicht in ihr Schema von der idealen Gesellschaft passen.

Vor allem ist die Systemfrage nicht von der überragenden Bedeutung, wie sie vielen erscheint. Es gibt wichtigere Dinge, die über das Gelingen oder Scheitern eines zivilisierten Gemeinwesens entscheiden. In der Hauptsache hängt das Gelingen eines Staates davon ab, daß in der Bevölkerung ein gemeinsamer moralischer Kompass existiert - daß der einzelne gewissermaßen moralisch eingenordet ist, daß er mit seinen Mitmenschen die Bereitschaft zum guten Handeln teilt und sich überhaupt mit seinen Mitmenschen - über alle persönlichen Sympathien und Antipathien hinausgehend - als Teil einer Gemeinschaft empfindet, sich um deren Wohl sorgt und bereit ist, für sie Opfer zu bringen, nicht nur Nutzen aus ihr zu ziehen.

Das stellt auch die Frage nach der Demokratie – gar der direkten, um die es hier geht, in die richtigen Relationen. Es sind grundsätzlich auch andere politische Ordnungen als die parlamentarisch-demokratische denkbar, in denen legitime Herrschaft ausgeübt wird und ein zivilisiertes Miteinander herrscht: die genannten Voraussetzungen – das Zusammengehörigkeitsgefühl und das Bemühen des einzelnen, sich an den gemeinsamen moralischen Normen zu orientieren – sind viel entscheidender für Gedeih und Verderb der Gesellschaft als ihre historisch-konkrete politische Gestalt.

Die Gefahren des Machtmißbrauchs

Alle Macht geht vom Volk aus... und kehrt nie wieder dorthin zurück, lautet ein alter sarkastischer Scherz. Menschen haben leider eine unausrottbare natürliche Neigung, die Macht, die ihnen einmal übertragen wurde, zu behalten, zu festigen, auszudehnen und für ihre persönlichen Zwecke auszunutzen. Ihre Machtposition birgt ein gewaltiges Schadensrisiko. Eine wirksame Möglichkeit, dieses Schadenspotential wenigstens begrenzt zu halten, besteht in der Kontrolle der Herrschenden durch das Volk, in dessen Dienst sie stehen.

Gerade weil Völker nun einmal die relevanten politischen Subjekte darstellen, die den Angelpunkt politischen Denkens bilden müssen, kann einem jedes Mittel recht sein, um die politischen Repräsentanten möglichst eng an den Volkswillen zu binden. Gerade wenn man weiß, daß Korruption und Machtmißbrauch nicht aus der menschlichen Natur auszumerzen sind, sollte einem daran liegen, die Übertragung politischer Macht auf einzelne Volksvertreter möglichst risikoarm zu gestalten: beispielsweise ist es allgemeine Meinung, daß Volksvertreter nicht auf Lebenszeit, sondern nur für einige Jahre ein politisches Amt übernehmen sollten.

Um es mit Montesquieu zu sagen:

Die politische Freiheit ist nur unter maßvollen Regierungen anzutreffen. Indes besteht sie selbst in maßvollen Staaten nicht immer, sondern nur dann, wenn man die Macht nicht mißbraucht. Eine ewige Erfahrung lehrt jedoch, daß jeder Mensch, der Macht hat, dazu getrieben wird, sie zu mißbrauchen. Er geht immer weiter, bis er an Grenzen stößt. Wer hätte das gedacht: Sogar die Tugend hat Grenzen nötig.[3]

Gewaltentrennung

Ein wichtiges Korrektiv, um Machtmißbrauch zu verhindern, ist auch die Grenzsetzung politischen Handelns durch das Recht, das von einer streng getrennten Judikative überwacht und gepflegt wird – also die Gewaltentrennung (der Begriff Gewaltentrennung ist nicht nur die korrekte Übersetzung aus dem englischen Original separation of powers, sondern drückt auch besser als "Gewaltenteilung" aus, daß es nicht um eine Zusammenarbeit verschiedener, im Grunde gleichgeschalteter Herrschaftsbereiche geht, sondern um echte gegenseitige Kontrolle). Auch dieser Grundsatz der Gewaltentrennung ist in Deutschland nicht verwirklicht, vor allem wegen der Ernennung der rechtsprechenden durch die exekutive und legislative Gewalt.

Wenn eine Gesellschaft beansprucht, auf eine bestimmte Weise verfasst zu sein, diese Verfassung aber nur auf dem Papier vorzufinden ist, gedeiht die Heuchelei. In dem Bewusstsein, daß selbst die grundlegendsten Prinzipien des Rechtsstaats nicht verwirklicht sind, erscheint auch jeder andere Rechtsbruch als eine läßliche Sünde. Bis in die höchsten politischen Kreise hinein (und dort mit den schlimmsten Auswirkungen) blüht die Mentalität des Legal - illegal - scheißegal, so daß wir ständig mit ungeahndeten Rechtsbrüchen gewaltigen Ausmaßes durch die Exekutive konfrontiert sind.

Wie auch immer das Recht im einzelnen ausgestaltet ist - die Rechtssicherheit ist von entscheidender Bedeutung für ein zivilisiertes Gemeinwesen. Aus gutem Grund zitierte Papst Benedikt XVI. auf seiner Rede vor dem Bundestag am 22.9.2011 den Ausspruch des Hl. Augustinus:

Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande? [4]
Jeder Bürger braucht Rechtssicherheit - für die Planung seiner Arbeit, seiner Unternehmungen, seines eigenen Lebens wie auch des seiner Familie. Rechtssicherheit gehört zu den kollektiven Gütern, für deren Erhalt wir uns einen Staat überhaupt leisten (darin ist sie z.B. der Infrastruktur ähnlich, nur fundamentaler).

Die unpolitische Masse

Ein häufiger Einwand gegen direkte Demokratie – der genauso gegen Demokratie überhaupt angeführt werden kann – lautet: ein großer Teil der Bevölkerung sei doch an politischen Fragen sowieso desinteressiert, würde sich gar nicht um Politik kümmern.

Ja und? Es war so, seit es Menschen gibt: der vermutlich größte Teil der Menschen kreist um seine persönlichen Belange - sie bestellen ihre Scholle, kümmern sich um ihre Lieben und lassen ansonsten den Kaiser einen guten Mann sein. Daran ist auch nichts Verwerfliches. Schon der "Prediger" resümierte vor Jahrtausenden:

Darum merkte ich, daß nichts Besseres darin ist, denn fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben. Denn ein jeglicher Mensch, der da isst und trinkt, und hat guten Mut in seiner Arbeit, das ist eine Gabe Gottes. (Prediger 3,12-13)

Herrschaftssysteme kommen und vergehen, Monarchen und Präsidenten treten auf und ab, aber die Erde dreht sich weiter, und die grundlegende metaphysische Verfasstheit dieser Welt, die moralische Substanz und die Natur des Menschen bleiben sich gleich. Wieso sollte man es daher als ein Übel ansehen, wenn viele sich gar nicht um die Details kümmern? Sie arbeiten und kümmern sich um ihren Anteil am Ganzen - sie sind nicht Parteigenosse, nicht Bezirksrat oder Stadtpräsident, aber sie sind die tragenden Säulen der Gesellschaft: sie schaffen den Wohlstand, von dessen Zehnten die Eliten sich bloß nähren, hier lebt in gesunden Gesellschaften auch der Gemeinschaftsgeist und das Zusammengehörigkeitsgefühl. Von Gnaden dieser schaffenden Menschen, und um dieser Menschen willen, existiert der ganze institutionelle Überbau ja überhaupt.

Auf die Frage der Abstimmungen bezogen, gilt natürlich: Wer schweigt, scheint zuzustimmen. Mehr als die Möglichkeit ihrer Stimme kann kein System den Menschen geben. Ob sie es gebrauchen, liegt in ihrer Hand. Man kann den Hund nicht zum Jagen tragen! Auch der Entschluss des Nichtwählers, die Entscheidung den Wählern zu überlassen, ist zu respektieren. Eine gesetzliche Wahlpflicht würde jedenfalls nicht das politische Bewusstsein vergrössern.

Subsidiarität

Demokratie kann umso weniger gelingen, je mehr den Menschen von oben in ihre Belange hineingepfuscht wird. Die Kompetenzen der Eliten sind nicht nur durch Gewaltentrennung zu kontrollieren, sondern grundsätzlich auf das mindest Nötige zu beschränken. Dieser Grundsatz heißt Subsidiarität. So steht die ganze Machtpyramide auf gesundem Fundament: der, der ganz oben steht, hat nicht etwa die meiste Macht, sondern nur gerade soviel Macht, wie benötigt wird, um Belange zu regeln, die in darunterliegenden Einheiten nicht geregelt werden können. Ganz unten in der Pyramide steht der Souverän, der Mensch – durch sein Leben verankert in seiner Familie, seiner Gemeinde, seiner Religion, seinen Vereinen, seinem Volk. Was auch immer er sinnvoll für sich regeln kann, soll er tun – wo es nicht möglich ist, sollen dies die nächsten ihn umhüllenden Gemeinschaften tun.

Das Subsidiaritätsprinzip wird in der Theorie überall gutgeheißen, es steht in allen Verfassungen, sogar in einer für alle Mitglieder verbindlichen EU-Charta. In der politischen Praxis wird ihm aber entgegengearbeitet: so ist es beispielsweise das unverhohlene Ziel der EU wie auch der Bundesregierung, Kompetenzen der Nationalstaaten in der Innen-, Außen-, Verteidigungs- und Wirtschaftspolitik auf die EU zu übertragen und auch die Legislativen der EU-Mitgliedsstaaten zu bloßen Akklamationsorganen für Gesetzesentwürfe aus Brüssel zu degradieren.

Vox Populi: Vox Dei oder Vox Rindvieh?

Vox Populi - vox Dei, Volkes Stimme - Gottes Stimme, liegt darin nicht eine unerhörte Anmaßung? Schon Alkuin, Berater Karls des Großen, hielt nicht viel von diesem offenbar uralten Grundsatz:
Auf diejenigen muss man nicht hören, die zu sagen pflegen, "Volkes Stimme, Gottes Stimme", da die Lärmsucht des Pöbels immer dem Wahnsinn sehr nahe kommt. [5]
Später wurde der Spruch in Deutschland zu Vox populi, vox Rindvieh verhunzt, worin sich die gleiche Verachtung des "Pöbels" ausdrückt. Immer sind da Leute, die es besser wissen als das Volk, in dessen Auftrag sie handeln sollten. Die die Macht, sobald sie sie einmal ergriffen haben, für alles mögliche gebrauchen, ohne sich ihrem Volk noch in irgendeiner Weise verpflichtet zu fühlen. Das Volk wird zum lästigen Pöbel degradiert, für den man sich allenfalls schämt und den es lediglich ins politische Kalkül einzubeziehen gilt. Ansonsten weiß man besser als dieser Pöbel, was zu tun ist – man kann ja lesen und schreiben, man gehört einer anderen Klasse an: der politischen Klasse.

Dabei enthielt der Ausspruch vox populi - vox Dei eine tiefe Wahrheit. Selbstverständlich ist nicht etwa die Hybris gemeint, das Volk würde sich zum Gott erheben, den Platz Gottes einnehmen. Vielmehr wird gesagt, daß Völker gottgewollt sind und die wahre Legitimationsquelle für alles politische Handeln darstellen. Jedes politische Amt besteht nur zu Diensten des Volkes, ist nur durch das Volk legitimiert. Idealerweise können Völker sich - wie jeder einzelne - als Subjekte des politischen Handelns verstehen und gemäß der göttlichen Ordnung leben. Natürlich gehört es zu den Voraussetzungen funktionierender Demokratie, daß dieser Wille als maßgebliche Kraft im Volk noch vorhanden ist.

Daß es in einem Volk Experten und Laien gibt, daß es Kluge und weniger Kluge gibt – geschenkt. Entscheidend ist, daß alle sich gemeinsam dem Besten ihres Volkes verpflichtet fühlen. Auch Kompliziertes muß sich, wenn es sehr Grundsätzliches betrifft, in seinen Grundzügen einfach darstellen lassen können.

Auch handelt direkte Demokratie nicht davon, alle, auch die kleinsten alltäglichen Details des Regierens per Volksentscheid regeln zu wollen – diese werden weiterhin delegiert an die politischen Repräsentanten, und selbstverständlich ist zu ihrer Ausführung Expertise notwendig. Der Repräsentant weiß, daß die von ihm angekündigten politischen Zielsetzungen vom Volk gebilligt sind, sonst wäre er nicht da, wo er ist. Er muß nicht bei allem, was er nun in seiner Amtszeit im politischen Alltag entscheidet, den neuesten Umfragen hinterherhecheln. Das wäre eine mißverstandene direkte Demokratie zu Lasten der politischen Handlungsfähigkeit des Volkes. Die Volksentscheide gehen vielmehr auf die großen Linien, auf Langfristiges, Strategisches, auf Schicksalsfragen der Nation (oder was ein hinreichender Teil des Volkes dafür hält).

Populisten und Demagogen

Das Pejorativum Populismus wird in den Haupststrommedien im Endlosmodus verwendet, um die Opposition zur herrschenden politischen Klasse zu diskreditieren. Hierzu hat Frank Furedi bereits 2014 in seinem brillanten Essay Populismus - die Arroganz der Eliten alles Relevante gesagt.

Der im Wort enthaltene Vorwurf an den politischen Gegner lautet im Kern, er würde (unzulässigerweise) "einfache Lösungen für komplizierte Probleme" anbieten. Da erheben sich gleich mehrere Einwände:

  • Erstens gibt es ja für eine Reihe von Problemen tatsächlich einfache und zugleich wirkungsvolle Lösungen.
  • Zweitens gibt es auch eine Scheinkomplexität, hinter der sich Machthaber verschanzen können: tatsächlich Einfaches kann als unglaublich kompliziert und detailreich dargestellt werden, so daß nur Experten es noch überschauen können (die man daher dringend weiterhin auf der payroll des Volkes braucht). Der Kaiser kann glauben, ein gar kunstvolles Gewand zu tragen, das aus den exotischsten Stoffen verwoben und versponnen ist - und doch in Wahrheit nackt sein.
  • Drittens ist die unzulässige Vereinfachung, die es natürlich unbestreitbar gibt, nicht auf ein bestimmtes politisches Lager beschränkt. Die einzige Möglichkeit, diese zu entkräften, liegt darin, die voraussehbaren schädlichen Wirkungen dieser Vereinfachung seinerseits in einfacher, für alle verständlichen Form im politischen Diskurs klarzustellen.
Auf Volksentscheide angewandt, bleibt hier zu wiederholen: was sich überhaupt sagen läßt, das läßt sich auch klar sagen. Gerade wenn es um die großen Linien, die Schicksalsfragen des Volkes geht, die jeden angehen, muß es möglich sein, den richtigen Weg und den Nutzen für das Volk auch in klaren Worten und in einfacher Form zu vermitteln, so daß nicht nur Experten es verstehen, sondern jeder mit gesundem Menschenverstand begabte Bürger ebenso.

Aber kann nicht ein Demagoge mit populistischen Sprüchen an die Macht kommen? Ja, das ist möglich. Wenn er Demokratie und Gewaltentrennung beibehält, kann man ihn zügig wieder abschaffen. Wenn er sich nicht daran hält, wird es schwieriger: dann ist ein – in der Regel blutiger – Seitenstrang der Geschichte eröffnet, bis Recht, Gesetz und volkslegitimierte Herrschaft wiederhergestellt sind. Noch schwieriger wird es, wenn sich die Machthaber nur teilweise an Demokratie und Gewaltentrennung halten und sich nur mit den Lippen zu ihrem Volk und dessen Verfassung bekennen - wie im heutigen Deutschland.

Grundsätzlich ist zu diesem Einwand zu sagen: leider gibt es keine Herrschaftsform ohne das Risiko ihrer Selbstabschaffung. Demokratie, Volksentscheide, Gewaltentrennung sind auch nur Sicherungsmechanismen, sie enthalten keine Ewigkeitsgarantie für das System, das sie schützen sollen. Ja, es ist wahr: es kann demokratisch die Abschaffung der Demokratie beschlossen werden. So wie "leben immer lebensgefährlich ist", so gibt es auch keine Versicherung gegen den Untergang einer gesellschaftlichen Ordnung. Die Möglichkeit existiert und ist prinzipiell unvermeidlich. Das habe ich an anderem Ort bereits diskutiert.

Demokratie und Multikulti

Ein wirklich ernstzunehmender Einwand gegen Demokratie liegt darin, daß ihre Grundlage, ein gesunder, seine Identität pflegender Demos, seit Jahrzehnten systematisch zersetzt wird. Ohne Demos aber gibt es keine Demokratie. Unter dem jeder Begründung enthobenen Dogma "Diversität ist gut" wird schon seit langem der massenhaften Einwanderung anderer Völker nicht nur kein Widerstand entgegengesetzt, sondern sie wird noch ausdrücklich willkommen geheißen.

Wenn aber das Volk durch einen Vielvölkerstaat ersetzt wird, zerfällt seine Handlungs- und Willenseinheit, Voraussetzung aller demokratischen Entscheidungsfindung. Statt Demokratie gibt es dann nur noch Lobby- und Partikularinteressen, der Staat wird nur noch zur Interessenvertretung einzelner konkurrierender Gruppen, die ihn sich zur Beute zu machen suchen. Wenn das Volk demontiert wird, gibt es auch nicht mehr das gemeinsame Wohl des Volkes als Ziel, dem sich alle Gruppen verpflichtet fühlen. Die Geschichte lehrt, daß in solchen Gemengelagen früher oder später ein brutaler Kampf der einzelnen Gruppen um die Vorherrschaft einsetzt. Das friedliche Miteinander ist eine Fiktion.

Aber gerade weil das so ist: gerade weil die Fragmentierung des Volkes zwar droht, aber noch nicht besteht, ist die Forderung nach mehr Demokratie wichtig, weil sie das Volk stärkt, solange es noch eine Mehrheit in seinem eigenen Territorium darstellt.

In die Demokratie eingebaute Verfallsfaktoren

Ich will mit all diesem nicht sagen, daß Demokratie etwa die endgültige Selbstorganisation der Gesellschaft darstellt. Sie ist nur solange gut und zu empfehlen, wie im Volk noch genügend moralische Substanz, genügend Orientierung am objektiv Guten vorhanden ist. So wie "2+2=4" wahr bleibt, egal ob eine Mehrheit diesen Satz biligt oder ablehnt, so ist auch das moralisch Gute eine objektive Größe, unabhängig vom Resultat irgendwelcher Mehrheitsentscheidungen. Die Orientierung an diesem objektiv Guten ist die Voraussetzung für ein stabiles Gemeinwesen - nicht ein bestimmtes politisches System.

Leider hat die Demokratie eingebaute Verfallsfaktoren, aufgrund derer die Verankerung im objektiv Guten nach und nach ihre Kraft verlieren wird. Da in einer Demokratie jede Stimme gleich gewichtet wird, wird dem Gleichheitsvorurteil Vorschub geleistet: der mehr oder weniger unbewußten Erwartung, es könne eine Gesellschaft ganz ohne Hierarchie existieren. Auch in einer Demokratie ist Hierarchie ja nicht abgeschafft. Es gibt Vorgesetzte und Untergebene, es gibt Bessere und Schlechtere, Reichere und Ärmere usw. Die Stabilität der Gesellschaft hängt davon ab, daß jeder seine Pflichten wahrnimmt und notwendigen Gehorsam übt. Die demokratische Mentalität empfindet Gehorsam als Zumutung: warum Gehorsam gegenüber jemandem, der wie ich nur eine Stimme bei Wahlen hat? Wenn die Bindungskräfte der Führung und des Gehorsams hinreichend zerrüttet sind, geht die Demokratie notwendig in einen anderen Zustand über, in dem die Autorität mit Gewalt wiederhergestellt wird. Das kann eine Tyrannis sein, oder eine Herrschaft vieler lokaler mafiaartiger Banden. Allerdings ist Geschichte nicht deterministisch und hängt von den Willensentscheidungen vieler einzelner ab. Daher läßt sich nicht vorhersagen, wie lange eine Demokratie wirklich noch aus sich heraus Bestand hat und wann sie, um den Rückfall in den Kampf jedes gegen jeden zu verhindern, in ein autoritäres System übergeht.

Fazit

Es gibt keinen anderen Zweck politischer Herrschaft als den Dienst am bonum commune, dem gemeinsamen Guten des gesamten Volkes: das ist eigentlich mit dem alten Satz vox populi - vox Dei gemeint. Dieser Grundsatz impliziert allerdings kein automatisches Votum für Demokratie, denn auch andere politische Ordnungen können auf das bonum commune ausgerichtet sein. Wenn sich aber eine Gruppe über längere Zeit etabliert, die die gesellschaftliche Macht innehat (und eine solche gibt es in jeder Regierungsform, auch in der Demokratie), stellt sich immer die alte Juvenalsche Frage quis custodiet custodes? Wer überwacht die Bewacher?

Hier sind Volksentscheide zu wichtigen, strategischen Fragen der Politik eine wertvolle Ergänzung einer repräsentativen Demokratie. Sie stärken auch das Bewußtsein des Volkes, daß der Staat sein Projekt ist - daß er seinem Volk zu dienen hat.

Gerade in einer Zeit, in der die Regierungen mit globalistischen Flausen im Kopf auf eine Zerstörung gewachsener Völker hinarbeiten, gerade wenn die Uhr des multikulturalistischen Zerstörungswerkes erbarmungslos tickt, sollten die Völker alle nur möglichen Pfeile im Köcher haben, die ihnen zur Selbstbehauptung gegen ihre irrlichtelierenden Herrscher noch zur Verfügung stehen. Dazu gehören insbesondere bindende Volksentscheide (und nicht etwa bloß konsultative Volksbefragungen), wie in der Schweiz. Jedenfalls solange im Volk noch genügend moralische Substanz und Wille zur gemeinsamen Ordnung vorhanden ist, um sich selbst nach dem demokratischen Prinzip zu regieren.

Quellen

[1] Kohl, Helmut: Bei der Euro-Einführung war ich ein Diktator, merkur.de vom 11.4.2013, https://www.merkur.de/politik/helmut-kohl-bei-euro-einfuehrung-diktator-zr-2846068.html
[2] Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft, Mohr Siebeck (Tübingen), 1972, S. 28.
[3] Montesquieu, Vom Geist der Gesetze (1748), Reclam (Stuttgart) 1994, S. 215.
[4] Augustinus von Hippo, De civitate dei, IV.4.1
[5] Brief Alkuins an Karl den Großen (798?), bei http://www.dmgh.de

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