Montag, 2. Dezember 2019

Ideen haben Konsequenzen

Erkennen zielt auf die Wirklichkeit
Der Geist der Technik
Gegen-Inspiration bei Nietzsche
Konsequenter Darwinismus
Auswirkungen auf das Seelenleben
Was auf dem Spiel steht

Erkennen zielt auf die Wirklichkeit

Ideas have Consequences, lautete der Titel eines 1948 erschienenen Buches von Richard M. Weaver, in der er die geistesgeschichtlichen Wurzeln unserer modernen Begriffsstutzigkeit herausarbeitet. Ich will darauf hier nicht inhaltlich eingehen, sondern nur festhalten, daß schon der Titel Programm ist: Es ist nicht belanglos, wie wir über die Welt denken, keine ins Belieben gestellte Geschmackssache. Die Welt ist vorgefunden, nicht eigenmächtig konstruierbar, wie es narzißtischer Übermut glaubt. Die Vorstellung von der vom Menschen selbst entworfenen Welt karikierte Goethe im "Faust", indem er den Baccalaureus in jugendlicher Selbstüberschätzung sprechen ließ:
Dies ist der Jugend edelster Beruf:
Die Welt, sie war nicht, eh ich sie erschuf!
Die Sonne führt ich aus dem Meer herauf;
mit mir begann der Mond des Wechsels Lauf.
Da schmückte sich der Tag auf meinen Wegen,
die Erde grünte, blühte mir entgegen.
Auf meinen Wink, in jener ersten Nacht,
entfaltete sich aller Sterne Pracht.
Erkenntnis ist Wahrnehmung objektiver Realität, nicht Konstruktion. Wir haben unser Erkenntnisvermögen, unseren Verstand, um uns ein möglichst gutes Bild von der Welt zu machen, und die Wirklichkeit korrigiert ungerührt falsche Vorstellungen, die wir von ihr haben, indem sie die Zwecke vereitelt, die wir, auf falschen Vorstellungen gründend, unserem Handeln geben wollen. Wie wir die Welt wahrnehmen, hat unmittelbare Konsequenzen für unser Leben, bis hin zur Gefährdung unserer ganzen Existenz. Das deckt sich mit der unmittelbaren Alltagserfahrung: wenn ich der festen Überzeugung bin, bei einem Sprung vom Hausdach würde ich wie ein Blatt sachte gleitend hinabsegeln, kann mich diese Überzeugung das Leben kosten.

Was für einzelne gilt, gilt auch für den Zeitgeist, also das in einer Gesellschaft in einer Epoche vorherrschende Bündel von Anschauungen. Es können Anschauungen vorherrschen, die die ganze Gesellschaft kollektiv dem Untergang zuführen – und es gibt Anschauungen, die die Gesellschaft zum Blühen bringen, die jeden einzelnen ein sinn- und freudvolles, erfülltes Leben in ihr ermöglichen (in den Grenzen natürlich, in denen das in dieser Welt überhaupt möglich ist).

Der Geist der Technik

Etwa um die Mitte des 19. Jahrhunderts gewannen Vorstellungen in der Gesellschaft an Gewicht, die in dieser Wucht und Breite zuvor nie vorhanden waren. Dazu gehörte die Idee einer vollständigen Berechenbarkeit der Welt, die man als ein sich entfaltendes Spiel von Atomen ansah. Laplace hatte schon 1814 die Ansicht formuliert, daß eine Intelligenz, die die Orte und Impulse aller Teilchen der Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt kennen würde, in der Lage wäre, die sich entwickelnde Welt in all ihren Einzelheiten zu berechnen, jeden Willensentschluß und Gedanken jedes einzelnen Menschen, der je lebte oder leben wird, jedes Ereignis der Zukunft vorhersagen und auch die gesamte Vergangenheit des Universums rechnerisch rekonstruieren könnte (der berühmte Laplacesche Dämon).

Diese deterministische Weltsicht war nicht nur die einzelne Bemerkung eines Gelehrten, sondern fand in der ganzen Gesellschaft stärkste Resonanz. Hand in Hand mit dem Determinismus gingen der Naturalismus und Szientismus, aber auch die naiven Ansichten von Denkschulen wie dem Positivismus, indem man alle Menschen in diesem Sinne "aufklärte", würde man einem glanzvollen, friedlichen terminalen Zustand der Geschichte entgegengehen, in der sich alle Menschen freundlich die Hände reichten und sich gemeinsam das Räderwerk der großen Weltmaschine nutzbar machen würden. Auch die Erfindungen und Entdeckungen jener Zeit brachten einen ungeheuren Schub: der menschliche Geist grub sich gewissermaßen immer tiefer in das rein Irdische hinein.

Von dieser Zeit sprach Pfarrer Hans Milch (1924-1987) in seiner bekannten Predigt vom 7.10.1979 über den drohenden Untergang Europas.

Was sich da [in der Mitte des 19. Jahrhunderts] ereignet hat, kann gar nicht hoch genug bewertet werden in seiner dämonischen, zerstörerischen Bedeutung, aber auch in seiner Chance... In der Mitte des vorigen Jahrhunderts [des 19.] brach die moderne Technik in die Erdmenschheit ein, zuvorderst in Europa. Die moderne Technik ist ohne jede Parallele in der bekannten Menschheitsgeschichte, nicht etwa das Ergebnis einer jahrtausendelangen Entwicklung. Jahrtausendelang, über alle bekannten Zeiten der Geschichte hinweg, hat sich gar kein technischer Fortschritt ereignet — in einzelnen Kulturkreisen relative technische Errungenschaften, aber im Großen und Ganzen kein mit dem heutigen Fortschritt der Technik auch nur entfernt vergleichbarer Vorgang. Das ist von gar nicht abzusehender Bedeutung.

Was heißt überhaupt technischer Fortschritt? Es heißt, die Instrumente, welcher sich der Mensch bedienen kann, wachsen, vervielfältigen sich – und wir wissen, daß diese Vervielfältigung der Mittel in geometrischer Reihe, in geometrischer Beschleunigung sich vollzogen hat: rasant, atemberaubend, schauererregend, geradezu gespenstisch. Die Mittel und die Eindrücke die auf den Menschen einstürmen. Je mehr Mittel aber den Menschen zur Verfügung stehen, umso mehr muß der Mensch wissen, wer er ist - denn diese Mittel sollen ja ihm dienen, seinem Wesen, nicht seinem Wunsch. Es ist eine Folge des Sündenfalls, daß bei uns Wunsch und Wohl oft kollidieren und im Widerspruch zueinander stehen.

Wir gebrauchen die technischen Mittel zur Befriedigung unserer Wünsche - auf Kosten unseres Wohls. Was ist Wohl? Das, was dem Wesen gemäß ist. Je mehr ich also bedrängt werde von Angeboten, um so wacher muß ich wissen, wer ich bin, was mein Wesen ist. Und in der Mitte des vorigen Jahrhunderts [des 19.] hat der Mensch in Europa weniger gewußt als zuvor, vor allem wenn man das hohe Mittelalter zum Vergleich nimmt - weniger als zuvor, viel weniger, wer er wesenhaft ist. Er war also unvorbereitet diesem Ansturm gegenüber. Es fehlten in diesen Zeiten die Eliten – diejenigen, die das geistige Gebaren der Menschheit prägen. Führungslos wankte die europäische Menschheit dahin. Und in diese flatternde Ungewißheit brach gerade das ein, von dem es heißt: ehe du einen Schritt voraus tust in der Entfaltung der äußeren Welt, mußt du zuvor zwei Schritte tun in der Entfaltung der inneren Welt, in der Erweckung des geistigen Bewußtseins.

Geist darf man nicht verwechseln mit Verstand. Geistiges Bewußtsein heißt Wesensbewußtsein. Darum war es sehr, sehr schlecht bestellt, und das ist selbstverständlich immer weiter abgesunken – im selben Maße abgesunken, obwohl es hätte wachsen müssen, wie die moderne Technik anschwoll. Der Menschengeist ist dazu, da die sich ihm darbietende Vielheit im Zeichen der Einheit zu bewältigen und zu bannen. Diese Bannkraft des Geistes ist schwächer geworden, die Vielheit dessen, was auf uns einströmt und uns bedrängt, größer – daher zappelt der Mensch in seiner Seele, ist krank – die Couchs der Psychiater, die Sprechzimmer der Psychotherapeuten füllen sich:

Der kranke Mensch Europas! [hier spielt Hans Milch auf die Phrase "der kranke Mann am Bosporus" an, mit der man im 19. Jahrhundert den Verfall des Osmanischen Reichs bezeichnete].

Aus dieser Krankheit folgt das völlig gestörte bis zerstörte Verhältnis zu dem was wir Moral nennen. Moral ist die Lehre vom sittlich Guten. Das sittlich Gute ist das, was dem Wesen, der Würde der menschlichen Person entspricht. Da der Mensch nichts mehr von dem weiß, was eigentlich die Würde des Menschen erst ausmacht, weiß er auch nicht mehr, was gut ist – und darum verfällt das moralische Bewußtsein. Das ist verheerend und eine Katastrophe heraufbeschwörend. Die Zusammenhänge gehen der Sicht des Menschen verloren – lauter Teile hat er in der Hand, um mit Goethe zu sprechen, aber es fehlt ihm das geistige Band. Er weiß nicht mehr wie die Dinge zueinander geordnet sind, daß sie aufeinander hinweisen, über sich hinausweisen! Daher kann er die Dinge nicht mehr deuten und nicht mehr entziffern.

Man könnte hier einwenden, daß ja auch die Erfindungen und technischen Neuerungen, die Industrialisierung, das gigantische Wachstum der Welt der Waren und des Handels, daß dies alles seine Vorgeschichte habe. So wurde etwa schon im 15. Jahrhundert der Buchdruck eingeführt. Das ist zweifellos richtig - aber das war eine Innovation, die zunächst nur eine hauchdünne Schicht der Gelehrten betraf. Der Einbruch, der sich im 19. Jahrhundert ereignete, erfaßte die gesamte Lebenswelt der Menschen, pflügte das gesellschaftliche Leben in seiner ganzen Breite um.

Wer nur am Materiellen klebt, wie es etwa die Marxisten tun, überschätzt diese Vorgeschichte und verkennt den Einbruch von etwas qualitativ völlig Neuem, vorher nie Dagewesenen. Man muß sehen, daß zu jener Zeit ein geistiger Impuls in die Menschheit eintrat, der wie eine höhere Kraftwirkung diesen materiellen Umgestaltungen vorausging (wie ja auch Erfindungen und Technik nur daraus verstanden werden können, daß vom Verstand, von der Ideenwelt her sich etwas in die Materie hineinsenkt). Der Marxismus ist selbst ein Kind dieses geistigen Einbruchs. Er hängt einem historischen Determinismus an (der gesellschaftliche Fortschritt, die Entfaltung der Gesellschaft, könne mit der marxistischen Geschichts"wissenschaft" erkannt und vorhergesagt werden) und ist schon nach eigenem Eingeständnis materialistisch (in der Geschichtsbetrachtung als historischer, und philosophisch als dialektischer Materialismus).

Das Kommunistische Manifest, in dem Karl Marx und Friedrich Engels Grundlagen und Programm ihrer Bewegung formulierten, erschien übrigens 1848, also ziemlich genau zu dem Zeitpunkt, dem Hans Milch eine zerstörerische, dämonische Bedeutung zuweist. Ebenfalls in diese Zeit fällt auf der anderen Seite übrigens die Heraufkunft des sogenannten Spiritismus (wie etwa des Tischrückens, das sich ab 1848 wie eine Epidemie in Europa verbreitete). Der Spiritismus will noch die Welt der Toten, des Jenseits, ins Irdische, Räumlich-Zeitliche hineinziehen und bannen: er ist von seiner Wesensart her selbst materialistisch. Das ist bis in die Terminologie hinein spürbar, wenn die Spiritisten etwa von der Seele als dem "feinstofflichen Leib" sprachen. Der ironische Anfangssatz des Kommunistischen Manifests "Ein Gespenst geht um in Europa" ist viel tiefsinniger als es die Autoren beabsichtigten: obwohl eigentlich spöttisch gemeint, charakterisiert er in einem umfassenden Sinne genau den Zeitgeist, der seitdem unser Leben und Denken verhext.

Die Gefahr, die Hans Milch in diesem Vorgang als Pfarrer sieht – man könnte ihn auch noch umfassender anschauen – ist die Zerstörung der Moral: Moralbegriffe müssen im Wesensverständnis des Menschen gründen. Um aber zu wissen, was gut für mich ist, muß ich über mich selbst, über mein Wesen etwas wissen – und genau davon - von der Frage nach dem Wesen - führt die Technik weg, da sie die Erfüllung von Wünschen in den Vordergrund stellt. Die Frage nach dem Wesen ist der unter modernen Philosophen geächtete Essentialismus: man soll sie gar nicht mehr stellen, weil es angeblich müßig sei und keine Antworten zu erwarten seien. Nicht auf das Wesen, auf die Erscheinungen sollte man sich konzentrieren, das Miteinander, die Wechselwirkungen der Dinge, und was die Wünsche angeht, so gebe es ja einen gemeinsamen Nenner, über den sich alle Menschen einigen könnten: die materiellen Bedürfnisse, das tägliche Brot. Und weil der Mensch ein Mensch ist, drum braucht er was zu essen, bitte sehr!, wie es im Brechtschen Lied von der Einheitsfront heißt. Das gesamte Programm des Materialismus ist der Aufbau der Welt von unten, vom Materiellen her, und ganz in das Materielle eingeschlossen, die Verwandlung der Steine in Brot.

Gegen-Inspiration bei Nietzsche

Man kann bei der Untersuchung dieses geistigen Impulses das Eingreifen von übersinnlichen Mächten in das Erdengeschehen geradezu mit Händen greifen. Einzelne Menschen müssen von diesem Geist in einer unheimlichen Weise besetzt gewesen sein.

Ein Beispiel ist Friedrich Nietzsche. Er spann den Laplaceschen Gedanken von der vollständig berechenbaren Weltmaschine bekanntlich weiter: daß nämlich nach ungeheuer langen Zeiträumen alle möglichen Kombinationen und relativen Positionen, die die Teilchen zueinander einnehmen können, aufgebraucht seien und ein Zustand sich wiederholen müsse, der schon einmal dagewesen ist. Ab dann aber entwickele sich alles wieder nach den gleichen Gesetzmäßigkeiten, alles wiederhole sich bis aufs kleinste i-Tüpfelchen, so daß genau derselbe jetzige Moment nicht nur dieser jetzige ist, sondern auch der Moment, der sich vor Abermilliarden von Jahren schon einmal ereignet hat und sich in einer fernen Zukunft wieder ereignen wird. Die Unendlichkeit eingeschlossen in das rein Irdische – der Ouroboros beißt sich in seinen eigenen Schwanz, es gibt keinen Ausweg mehr aus der totalen Immanenz. Nietzsche ist sich des Beklemmenden oder Gespenstischen dieser Eingebung sehr wohl bewußt, dennoch ist sie ihm wie eine Offenbarung [1]:

„Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens muss dir wiederkommen, und Alles in der selben Reihe und Folge – und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!“ – Würdest du dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und den Dämon verfluchen, der so redete? Oder hast du einmal einen ungeheuren Augenblick erlebt, wo du ihm antworten würdest: „du bist ein Gott und nie hörte ich Göttlicheres!“ Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei Allem und Jedem „willst du diess noch einmal und noch unzählige Male?“ würde als das grösste Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! Oder wie müsstest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach Nichts mehr zu verlangen, als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung?
Das trotzige Nein zu aller Transzendenz, zu allem höheren Sinn ist es also, weshalb er sich diesem Gedanken hingibt und ihn für wertvoll und tief hält, obwohl er das Gemüt, wie er selbst schreibt, aufwühlen kann. Der Mensch als "Stäubchen vom Staube". Wer denkt nicht an den verächtlichen Fluch des Mephistopheles in Goethes Faust: "Staub soll er fressen, und mit Lust! Wie meine Muhme, die berühmte Schlange."

Das alles klingt nach einer Inspiration durch jene "Widersachermächte im Luftkreis", von denen im 6. Kapitel des Epheserbriefs die Rede ist (Eph. 6,11-12):

Ziehet an den Harnisch Gottes, daß ihr bestehen könnt gegen die Listen des Teufels. Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit den Erzmächten und Gewalten, mit den Herren der Welt, die in dieser Finsternis herrschen: mit den bösen Geistern in den himmlischen Regionen.
Diese Wesen, die hier als reale unkörperliche Wesen beschrieben werden, versuchen Zugang zum menschlichen Geist zu bekommen – und bekommen ihn dort, wo der Boden durch Trotz, Eigensinn, Stolz, Narzißmus und Verhärtung vorbereitet wird. Das luziferische non serviam! wirkt wie eine Beschwörungsformel, wenn ein menschlicher Geist es ausspricht. So wirken die "Erzmächte und Gewalten" inspirierend auf Menschengeister, die sich ihnen bereitwillig öffnen. Wir können uns vorstellen, daß gerade von besonderen Menschen, die eine hohe Mission innerhalb der Welt zu erfüllen hatten, eine besondere Zerstörungskraft ausging, wenn sie sich dieser Geistesart hingaben.

Die folgenden Zeilen fanden die Herausgeber der Nietzsche-Werkausgabe in seinem Nachlaß – wie sie notierten, von Nietzsche "zweifellos in sehr großer Erregung" geschrieben:

Was ich fürchte, ist nicht die schreckliche Gestalt hinter meinem Stuhle, sondern ihre Stimme, auch nicht ihre Worte, sondern der schauderhaft unartikulierte und unmenschliche Ton jener Gestalt. Ja, wenn sie noch redete, wie Menschen reden...
Der Pfarrer und Kirchenhistoriker Walter Nigg, der sich mit Nietzsches Leben und Wesensart befaßt hat, hält dies nicht für eine Pathologie, sondern für einen Hinweis auf eine unheilvolle Inspiration, unter deren Schatten Nietzsches Denken stand [2]:
Die Gestalt, die am lichten Tag hinter seinem Stuhl auftaucht und ihm schauderhaft unartikulierte Laute ins Ohr flüstert, so daß Nietzsche in grenzenloser Furcht zusammenfährt, ist mit jenem Finger zu vergleichen, der auf die getünchte Wand die geheimnisvolle Schrift schrieb, die den König Belsazar zum Erbleichen brachte. Hier wie dort hat man es mit einem Zeichen aus der unsichtbaren Welt zu tun, das nach einer metaphysischen Deutung verlangt.
Hier hat man einen hautnahen Eindruck von den "dämonischen, zerstörerischen Kräften", von denen Hans Milch in seiner Predigt sprach.

Konsequenter Darwinismus

Die vom Naturforscher Charles Darwin (1809-1882) formulierte Evolutionstheorie möchte ich hier nicht inhaltlich betrachten – es wäre vermessen, das im Rahmen eines Blogposts zu tun. Erwähnt sei nur, daß sie von ihrer Wesensart genau dieses Motiv der "Hinaufentwicklung aus der Materie" anspricht, das für diesen neuen Geistesimpuls charakteristisch ist (und paßt auch zeitlich sehr genau: On the Origin of Species erschien 1859, in der Zeit nach seiner Forschungsreise auf der Beagle (1831-1836) hatte sich der Gedanke von der Entstehung der Arten durch Zuchtwahl und Auslese allmählich inkarniert).

Man hat politische Konsequenzen aus der Evolutionstheorie gezogen, die der Devise Nietzsches Was fällt, soll man noch stoßen! gleichen. Wenn der Mensch ein Produkt des "survival of the fittest" ist, wenn er durch einen Jahrmilliarden währenden, mitleidlosen Kampf der Lebensformen an die Spitze der Schöpfung gelangt ist, dann liegt es nahe, diesen Kampf nun auch unter Menschen weiter fortzusetzen, auf daß der Stärkere gewinne.

Daß dies keineswegs eine Verfälschung der Gedanken Darwins, sondern in diesen bereits angelegt ist, kann man in seinem Werk The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex nachlesen. Dort macht er sich auf den Seiten 162f. Gedanken über die Bedeutung seiner Theorie für die menschliche Gesellschaft (wobei er die Ideen dreier anderer zeitgenössischer Naturforscher verwendete, die er zuvor als Quelle benannt hatte):

With savages, the weak in body or mind are soon eliminated; and those that survive commonly exhibit a vigorous state of health.

We civilized men, on the other hand, do our utmost to check the process of elimination; we build asylums for the imbecile, the maimed and the sick; we institute poor-laws; and our medical men exert their utmost skill to save life of every one to the last moment. There is reason to believe that vaccination has preserved thousands, who from a weak constitution would formerly have succumbed to small-pox.

Thus the weak members of civilized societies propagate their kind. No one who has attended the breeding of domestic animals will doubt that must be highly injurious to the race of man.

It is surprising how soon a want of care or care wrongly directed leads to the degeneration of a domestic race but excepting in the case of man himself hardly any one is so ignorant as to allow his worst animals to breed.

The aid which we feel impelled to give to the helpless is mainly an incidental result of the instinct of sympathy, which was originally acquired as part of the social instincts but subsequently rendered, in the manner previously indicated more tender and more widely diffused.

Nor could we check our sympathy, if so urged by reason, without deterioration in the noblest part of our nature.

The surgeon may harden himself while performing an operation, for he knows that he is acting for good of his patient; but if we were intentionally to neglect the weak and helpless it could only be for a contingent benefit with a certain and great present evil.

Hence we must bear without complaining the bad effects of the weak surviving and propagating their kind; but there appears to be at least one check in steady action, namely the weaker and inferior members of society not marrying so freely as the sound; and this check might be indefinitely increased, though this is more to be hoped for than expected, by the weak in body or mind refraining from marriage.

Schauen wir uns diese Stelle genau an: zunächst bemerkt er, daß Schwache und Kranke in den archaischen Gesellschaften "eliminiert wurden" – also getötet, ausgesetzt oder anderweitig aus dem Stamm entfernt. Den archaischen stellt er sodann die zivilisierten Gesellschaften gegenüber, in denen genau dies nicht gemacht werde: entgegen den Gesetzen der Evolution würde man es sich erlauben, diejenigen, die krank, behindert, irgendwie lebensunfähig sind, in Heimen zu pflegen; man würde Arme speisen, und die Ärzte würden mit allen Mitteln ihrer Kunst das Leben bis zum alleräußerst möglichen Moment verlängern. Durch Impfungen hätte man Tausende gerettet, die ohne Impfung aufgrund ihrer schwächlichen Konstitution den Pocken zum Opfer gefallen wären. Nun stellt er fest: kein Züchter würde bestreiten, daß ein solches Verhalten – die Schwachen überleben zu lassen – für die betreffende Art sehr schädlich sei. Es wäre nach seiner Einschätzung gut für die Menschheit, die Prinzipien der Züchtung, die man für jedes andere Tier anwendet, auch beim Menschen anzuwenden. Mit anderen Worten sei es höchst schädlich für die Menschheit (highly injurious), daß man die Schwachen und Kranken, die eigentlich nicht überlebensfähig seien, mit großem Aufwand am Leben halte.

Um Gutes zu tun, muß man das Schädliche fernhalten, Dinge mit "schlechter Wirkung" vermeiden. Es wäre also nach obiger Diagnose nur konsequent, den Schwachen zugrundegehen zu lassen, denn sein Überleben ist ja für die Menschheit, wie Darwin hier urteilt, "highly injurious". Man hat diese Dinge an dieser Stelle später auch konsequent zu Ende gedacht und mit der Ausführung begonnen. Im vermeintlichen Dienste einer "Veredelung des Erbguts" hat man zum Beispiel Behinderte sterilisiert oder sie vor oder gar nach der Geburt ermordet.

Darwin fand es überraschend, daß man diesen Grundsatz (die Schwachen auszusondern und zu töten) bei jeder anderen Art anwende, aber ausgerechnet bei der eigenen Art, beim Menschen selbst, vernachlässige. Er führt dies auf Sympathiekräfte zurück, die er als irgendwie erweiterte oder aufgeweichte Version des sozialen Instinkts bezeichnet (den er zuvor als für das Überleben der Menschen evolutionär positiv beschrieben hatte). Wir könnten auch diese Humanität nicht zurücknehmen, selbst wenn es die Vernunft uns sagen würde, "ohne daß die edelsten Teile unserer Natur verkümmern würden". Wir müßten daher die schlechten Folgen unserer Humanität ertragen (gleichsam zähneknirschend!). Einziger Trost sei, daß bei der Wahl des Ehepartners die Starken eine größere Wahlfreiheit hätten als die Schwachen, und daß die Schwachen sich öfter des Heiratens enthielten, worauf man allerdings eher hoffen könne als daß dies wirklich zu erwarten sei.

Die Humanität sei ein edler Zug des Menschen, den man aus irgendwelchen nicht genannten Gründen zu respektieren habe und um dessentwillen man die "schlechte Wirkung des Lebenbleibens und der Vermehrung der Schwachen" ertragen müsse.

Der Edelmut, um dessentwillen man dieses objektive Übel für die Menschheit hinnimmt, steht hier seltsam unbegründet im Raum. Man merkt, daß Darwin hier mit seinem Unternehmen, alles Verhalten aus der Selektion zu erklären, bei der menschlichen Humanität an seine Grenzen kommt. Daß die Ausbildung des sozialen Instinkts einer Gruppe einen Überlebensvorteil verschafft, ist ja noch einsehbar. Daß aber dieser soziale Instinkt so zu einer allgemeinen Humanität aufgeweicht ist ("more tender and more widely diffused" geworden ist) und man dies auch noch als einen der edelsten Züge im Menschen anzuerkennen habe, bleibt in Darwins eigenem Denken unverständlich. Bei seinem Versuch, das, was gut und was schädlich für die Menschheit sei, rein evolutionär zu begründen, ist überhaupt nicht einzusehen, wieso man dieser allgemeinen Humanität einen so hohen Platz einräumen sollte, zumal die Folgen des humanitären Handelns nach seiner eigenen Beobachtung ja dem entgegenlaufen, was gut für die Menschheit sei.

Auswirkungen auf das Seelenleben

Diese eigenartigen Mattheit oder Müdigkeit in Bezug auf die höheren Seelenkräfte des Menschen war Darwin sich auch in Bezug auf sein eigenes seelisches Leben bewußt. In den erst 1958 veröffentlichten autobiographischen Aufzeichnungen, die er als 67jähriger notierte, stellt er in nüchterner Selbstbeobachtung eine Verkümmerung seiner eigenen höheren Seelenanlagen fest [3, Hervorhebungen von mir]:
I have said that in one respect my mind has changed during the last twenty or thirty years. Up to the age of thirty, or beyond it, poetry of many kinds, such as the works of Milton, Gray, Byron, Wordsworth, Coleridge, and Shelley, gave me great pleasure, and even as a schoolboy I took intense delight in Shakespeare, especially in the historical plays. I have also said that formerly pictures gave me considerable, and music very great delight. But now for many years I cannot endure to read a line of poetry: I have tried lately to read Shakespeare, and found it so intolerably dull that it nauseated me. I have also almost lost my taste for pictures or music. Music generally sets me thinking too energetically on what I have been at work on, instead of giving me pleasure. I retain some taste for fine scenery, but it does not cause me the exquisite delight which it formerly did. On the other hand, novels which are works of the imagination, though not of a very high order, have been for years a wonderful relief and pleasure to me, and I often bless all novelists. A surprising number have been read aloud to me, and I like all if moderately good, and if they do not end unhappily–against which a law ought to be passed. A novel, according to my taste, does not come into the first class unless it contains some person whom one can thoroughly love, and if a pretty woman all the better.

This curious and lamentable loss of the higher aesthetic tastes is all the odder, as books on history, biographies, and travels (independently of any scientific facts which they may contain), and essays on all sorts of subjects interest me as much as ever they did. My mind seems to have become a kind of machine for grinding general laws out of large collections of facts, but why this should have caused the atrophy of that part of the brain alone, on which the higher tastes depend, I cannot conceive. A man with a mind more highly organised or better constituted than mine, would not, I suppose, have thus suffered; and if I had to live my life again, I would have made a rule to read some poetry and listen to some music at least once every week; for perhaps the parts of my brain now atrophied would thus have been kept active through use. The loss of these tastes is a loss of happiness, and may possibly be injurious to the intellect, and more probably to the moral character, by enfeebling the emotional part of our nature.”

Sein Geist wirkte also wie eine Maschine, wie ein Mühlstein, der eine Menge Fakten zermahlt, um daraus allgemeinere Prinzipien herzuleiten. Er findet es selbst beklagenswert, daß die höheren ästhetischen Empfindungen, die ihn in der Jugend noch beseelt und belebt hätten, ihm nach und nach abhanden gekommen seien und diagnostiziert, daß ihm damit nicht nur ein großer Teil seines Lebensglücks genommen sei, sondern wohl auch der Intellekt Schaden genommen habe, und, noch wahrscheinlicher, der moralische Charakter. Er ist Opfer einer Einkapselung ins Irdische, einer Materialisierung des Denkens geworden – und bemerkt es auch selbst.

Was auf dem Spiel steht

Erinnern wir uns an Hans Milchs Definition des sittlich Guten – es sei das, was dem Wesen des Menschen gemäß ist. Was aber der Mensch in seiner Wesenstiefe eigentlich ist, was sein Geheimnis, seine Würde, seine Bestimmung ist – davon haben wir uns durch diesen Einschlag des Materialismus im 19. Jahrhundert weiter entfernt denn je. Es waren im Geistigen gewaltige Zentrifugalkräfte wirksam, wir haben uns in die äußere Welt hineingearbeitet, ja hineingefressen bis zur Selbstaufgabe. Diese Gebärde der Einkapselung, des Sich-Selbst-Genügens, der Beschränkung auf das Sinnliche, der Verneinung alles Geistigen, ist heute nahezu allgegenwärtig.

Die Stoßrichtung dieser Entwicklung ist letztlich, uns von Jesus Christus zu entfremden: die Erlösungstat des Gottmenschen soll aus unserem Bewußtsein verdrängt, getilgt, letztlich ungeschehen gemacht werden. Diese Tat bestand darin, daß Er das Urbild der Gottesebenbildlichkeit in uns wiederherstellte, uns den Ausweg schuf, indem er die rettende Entscheidung in uns ermöglichte. Durch den Einbruch Gottes in die Erdenmenschheit ist es überhaupt wieder möglich, in den Himmel zu blicken. Sonst wäre das Gesetz der Schwere das einzig wirksame geblieben, die dumpfe, blind alles zermahlende Gesetzmäßigkeit, die sich - besonders deutlich in Nietzsches Gedanken von der Ewigen Wiederkehr - wie ein Fluch auf das Leben legt. Raum und Zeit wären zum Gefängnis geworden, das den Geist für immer versklavt, es hätte keinen Ausweg gegeben, keinen Lichtstrahl, der in diese Finsternis hineinleuchtete.

Aber das Licht leuchtete in der Finsternis: Christus hat sich hineinverkörpert mitten in diese fluchbeladene Welt, er ist mit seinem Menschenleben hineingegangen in die Gottferne, in die äußerste Entfernung zu sich selbst und hat den bösen Fluch damit von innen her entkräftet.


[1] Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft. La gaya scienza. Nietzsches Werke, Klassiker-Ausgabe, Kröner 1923, Band V, S. 265
[2] Walter Nigg, Friedrich Nietzsche, Zürich 1994, S.7
[3] The Autobiography of Charles Darwin 1809-1882, Edited by his grand-daughter Nora Barlow, London and Glasgow 1958, S. 138f.

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