Mittwoch, 4. April 2007

Über Verschwörungen

Unsere Spezies leidet nicht etwa an einem Übermaß an Aggression, sondern an einer übermäßigen Neigung zu fanatischer Hingabe. [Arthur Koestler]
Gestern habe ich mir - auf Empfehlung eines Kollegen - Hans-Christian Schmids Film "23" angesehen (erschienen 1998): einen Versuch, das tragische Schicksal des Hackers Karl Koch biographisch nachzuzeichnen, der am 23.5.1989 unter mysteriösen Umständen verstarb. Mord oder Selbstmord bedeuten in diesem Fall nur den Unterschied, ob es sich um eine direkte oder indirekte Folge seiner Geheimdienstkontakte handelte. Nebenbei habe ich es gewürdigt, dass der Film auf der DVD in 23 Tracks aufgeteilt wurde. Natürlich!

Filmkünstlerisch gesehen, ist "23" nicht besonders anspruchsvoll. Es ging wohl eher darum, das Leben dieses mittlerweile berühmten Hackers nachzustellen, seine Motive zu verstehen, seinen Charakter und die Verwirrungen, in die er geriet. Die Illuminatus!-Trilogie von Robert Anton Wilson, die Koch - wohl entgegen den Absichten des Autors - für bare Münze nahm, steht im Film nicht im Vordergrund, sondern spielt nur als Baustein zum Verständnis Kochs eine Rolle.

Robert Anton Wilsons Buch "Illuminatus!" begegnete ich erstmals während meines Armeedienstes bei den Merziger Fallschirmjägern im Jahre 1982 (genauer: dem ersten Band, die anderen beiden folgten später, ebenso wie die "Illuminati Papiere", die Trilogie "Schrödingers Katze" sowie vor allem seine Betrachtungen in "Cosmic Trigger" und "Der neue Prometheus"). Ich las es vor dem Schlafengehen und an den Wochenenden - und war zutiefst beeindruckt (wenn ich auch viele Ansichten Wilsons völlig inakzeptabel fand und finde).

Später, auf dem Münchner Katholikentag 1984 traf ich einen älteren Adventisten, der einen kleinen Infostand aufgebaut hatte und in Schautafeln über den Jenseitsweg der Seele informierte, den er offenbar genauestens kannte. Als ich ihn auf meine Lektüre ansprach, zog er die Brauen hoch. Er kannte das Buch. Der Autor habe absichtlich die Romanform gewählt, weil er ansonsten diese hochbrisanten Inhalte nicht habe veröffentlichen können. Er verdeutlichte mir, dass alle grossen Organisationen, seien es grosse Sekten wie Dianetics, Religionsgemeinschaften, politische Parteien oder Bewegungen, auch scheinbar idealistische Organisationen wie die Jesuiten, die Rosenkreuzer, die Anthroposophische Gesellschaft oder die Freimaurer (Illuminatus!-Leser ergänzen: Auch die "John-Dillinger-Starb-Für-Sie-Gesellschaft" :-) ), stets nach demselben Muster aufgebaut seien:

Sie suchten begeisterungsfähige, hingabebereite junge Menschen, denen sie eine geistige Heimat versprächen. Über Jahre - oder auch Jahrzehnte - machte sich die Organisation zur Projektionsfläche der Hoffnungen des neuen Schülers, der gerne und bereitwillig den Regeln des jeweiligen Übungsweges folgte, sein Leben mit Eifer nach den Prinzipien der Organisation einrichtete und ab einem bestimmten Grad auch selbst Ausschau nach neuen Mitgliedern halte. Es komme dann aber irgendwann der "Point of no return". Wenn das Mitglied fest genug mit der Organisation verwachsen sei, um auch stärkeren Tobak anzunehmen, komme der Punkt, an dem der Schleier um die inneren Geheimnisse gelüftet werde. In einer neuen, tieferen Initiation, über die dem Schüler ein besonders strenges Schweigegelübde abverlangt werde, würden ihm durchaus unangenehme Wahrheiten über die Organisation offenbart. Schmutzige Wahrheiten, die ihm im Grunde eine Verleugnung seiner bisherigen Ideale abverlangten.

Der Eingeweihte - so der Adventist - lebe ab diesem Punkt wie unter einem Fluch. Alles, was ihn in der Jugend mit Elan und Initiative erfüllte, müsse er als falsch erkennen. Von diesem Moment an sei seine Individualität erloschen. Er sei ab da nur noch Werkzeug seiner Organisation, deren Programm er nun routinemässig erfülle. Er könne nun hohe Ämter bekleiden, vielleicht als Sprecher der Organisation wirken und ihre Ziele und Ansichten nach aussen vertreten. Innerlich aber sei er ausgebrannt. Die Organisation habe seine Lebenskraft, seine Individualität abgeschöpft, sich von seinem Ich genährt und lasse nun eine blosse Hülle weiterwirken, einen ausgebrannten Menschen, der nur noch wie ein Schema, eine Marionette in der Welt stehe.

Als Leser des Romans war mir diese Theorie natürlich vertraut - Wilson verwendet die Einweihung in die ägyptischen Mysterien zur Illustration dieser Verwandlung: In der entscheidenden Initiation werde der Kandidat in einem Tempelraum mit einem Standbild des Gottes Osiris alleingelassen, des Gottes, auf den alle Verehrung und Hingabe des jungen Priesterschülers gerichtet waren. Irgendwann ertönen dann von irgendwoher die Worte
Osiris ist ein schwarzer Gott!,

über die der Initiat zu meditieren habe. Es ist klar, was Wilson damit meint: Die Einweihung verlangt vom Schüler, seine Ideale über Bord zu werfen. Er muss sich kompromittieren, handfest werden. Er erfährt die wahren Hintergründe seines Glaubens, muss sich ab nun an einer kriminellen Vereinigung beteiligen, wenn er nicht selbst Opfer eines Verbrechens werden will. Er erfährt, dass die Vereinigung davon lebt, Menschen zu manipulieren und zu belügen, zu beherrschen. Auch er wird ab diesem Zeitpunkt bereit sein, für die Organisation zu lügen, Schwarzes als Weiss darzustellen.

Dass Verwandlungen solcher Art vorkommen, auch planmässig, erscheint mir durchaus plausibel. Diese Verwandlung des Menschen, dieser Seelenfrass ist das eigentlich Tragische, wenn Menschen sich zu grösseren Gemeinschaften organisieren. Ist dieses Phänomen zwangsläufig mit grossen Glaubens- oder Weltanschauungsgemeinschaften verknüpft? Wie kann es dazu kommen?

Indem man "seine Seele verkauft". Indem man Menschen und von Menschen gemachten Organisationen etwas hingibt, das ihnen nicht gehört: Das eigene Ich. Im Gegenzug gewähren sie uns eine trügerische "geistige Heimat" und die vage Hoffnung, uns durch Einhalten gewisser Rituale oder Übungen zu einem höheren, besseren, grösseren, stärkeren, weiseren Menschen zu entwickeln. Ist das nicht ein durch und durch schmutziges Geschäft? Wenn wir uns die Versprechungen genau ansehen (ganz abgesehen davon, dass es sich um Mogelpackungen handelt), werden wir hier bei unserem Egoismus gepackt. Es wird uns glauben gemacht, dass das höhere Menschentum ein erwerbliches Gut ist. Ein transzendentes Gut, das uns ganz allein gehört und unseren höchsten Schatz darstellt, wird in diese Welt gestellt und letztlich zu einem merkantilen Objekt gemacht (das ist eine neue Bedeutung des Wilsonschen Begriffs von der "Immanentisierung des Eschatons"). In dem Moment, in dem wir darauf hereinfallen, kommt uns in Wirklichkeit das höhere Menschentum abhanden.

Dagegen hilft nur das Sich-Besinnen auf die eigene Individualität, auf den inneren Ruhepunkt, das göttliche Fünklein in unserer Seele. Wir müssen lernen, das "Übermass an Hingabe", mit dem der Mensch nach Koestler ausgestattet ist, nicht an Menschen oder Organisationen zu verwenden, die es nicht wert sind. Das sind wir unserem eigenen Wert als Individuum schuldig. Der Preis für diese Freiheit ist natürlich die geistige Heimatlosigkeit - das Urteil, die Wahrheit ewig suchen zu müssen, an Stelle des Glaubens, in ihrem Besitz zu sein.

[Arthur Koestler] Der Mensch. Irrläufer der Evolution, Fischer 1990, S.24

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