Montag, 25. Juni 2007

Der Atem des Lebens

Bekanntlich hat es den jungen Gautama, der als Prinz in einer behüteten, heilen Welt aufwuchs, zutiefst erschüttert, auf der Welt Alter, Krankheit und Tod wahrnehmen zu müssen. Sind diese unerfreulichen Dinge bloss die notwendige Kehrseite der Medaille, sind sie der unumgängliche Preis dafür, dass es auch schöne Dinge gibt? Muss es Alter, Krankheit und Tod geben, damit es Jugend, Gesundheit und Leben geben kann? Ist dies das Gesetz der Polarität, dass es kein Licht ohne Finsternis geben kann, den Tag nicht ohne die Nacht, den Sommer nicht ohne den Winter?

Wenn das Gute wirklich so unentwirrbar verflochten mit dem Schlechten ist, dann wäre es geboten, dem Kreis des Werdens und Vergehens für immer zu entkommen, wie Buddha es konsequenterweise getan hat. Seine Erleuchtung liess ihn über das Stirb und Werde triumphieren:

Den Wiedergeburtsweg endlos
habe vergeblich ich durchirrt.
Des Daseins Baumeister suchend;
leidvoll ist der Geburten Los.
Hauserbauer! Entdeckt bist du!
Nicht wirst du wieder bauen das Haus.
Zerbrochen sind die Balken dein,
des Hauses Zinnen sind zerstört.
Das Herz, dem Irdischen entflohn,
hat alles Wollens End' erreicht.[1]

Es ist zweifellos eine erschütternde Einsicht, dass alles, was uns umgibt, so schön es auch sein mag, bereits den Keim der Verderbnis in sich trägt. Alles ist vergänglich, uns selbst eingeschlossen. Schon im Embryo hat man Sterbeprozesse nachgewiesen. Der Knochenmann mit Stundenglas und Hippe steht immer bereit, uns einen nach dem anderen abzumähen, wenn die Zeit gekommen ist. Das gehört zu den Bedingungen, unter denen wir angetreten sind und in die wir uns fügen müssen.

Aber mit Lehren wie dem Polaritätsgesetz kommt man diesen Fragen nicht bei. Man macht es sich zu einfach, verpasst ein wesentliches Detail. Man lässt sich zu schnell dazu verleiten, mit dem Verstand eine Abstraktion zu entwickeln, um die Erfahrung einzuordnen. Denn die Vergänglichkeit steht nur wie eine äussere Notwendigkeit dem Erlebnis entgegen, dass alles Lebendige im Werden begriffen ist. Die Natur trägt, wenn ich auf sie lausche und mich mit ihr fühlend verbinde, eine grosse Verheissung in sich. Es ist dieser frische Atem des Werdens, der mich anders über die Vergänglichkeit denken lässt. Ich sehe und anerkenne die Vergänglichkeit, aber sie haftet dieser Welt nur akzidentell an, nicht essentiell. Das lehrt mich das Leben selbst. Das Lebendige zeigt sich zwar angekränkelt, wie beschädigt durch eine Art kosmischen Betriebsunfall, es lässt uns aber seine ursprüngliche Grösse ahnen und auf deren Wiederherstellung hoffen. Leben und Tod sind eben nicht unentwirrbar ineinander verschlungen, wie es das Polaritätsgesetz uns zu denken verleitet. Das Leben bedarf zu seiner Existenz nicht des Todes. Der Tod ist nur wie eine vorübergehende Beeinträchtigung eines grossen Plans. Es ist ein Rätsel, warum es ihn zur Zeit in der Welt geben muss. Aber ich spüre, dass jedes Wesen ein ideales Sein in sich trägt, eine Grösse, die es über seine gegenwärtige Erscheinung in der Welt weit hinaushebt.

[1] Die "Siegeshymne" des Buddha, zitiert aus: Hermann Oldenberg: Buddha. Sein Leben, seine Lehre, seine Gemeinde. Berlin 1890. S. 211.

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