Samstag, 10. März 2018

Pathologischer Narzißmus - Karikatur menschlicher Größe

In meinen Betrachtungen über menschliche Größe habe ich auch die scheiternde und vermeintliche Größe behandelt. Das Thema verlangt jedoch wegen seiner Wichtigkeit eine gesonderte Behandlung. Besonders eine Form dieses Scheiterns, der krankhafte Narzißmus gefährdet einzelne ebenso wie unsere ganze Gesellschaft, die sich sowieso großflächig dem Narzißmus verschrieben hat.

Der Fall David Wood
Symptome der narzißtischen Persönlichkeitsstörung
Die politische Bedeutung
Die theologische Bedeutung
Vertrauen und Autorität

Der Fall David Wood

Ich will die Beschreibung dieses Phänomens mit der bewegenden Geschichte des heute 42jährigen Amerikaners David Wood einleiten, weil sie besonders eindrücklich einige typische Züge des krankhaften Narzißmus aufzeigt.

David Wood hatte von Kind auf bemerkt, daß er anders war als seine Mitschüler: Schwierigkeiten oder Leiden von anderen ließen ihn vollständig unbeeindruckt – es fehlte also das, was die Psychologen heute "Empathie" nennen. Diese gesunde Einfühlungsgabe, die die meisten Menschen von Natur aus ins Leben mitbringen, ist eine Voraussetzung für ein nicht nur gedanklich-abstrakt, sondern unmittelbar gefühlsmäßig von der Reziprozität geleitetes menschliches Handeln im Sinne der Goldenen Regel ("Behandle andere so, wie du es von ihnen erwartest, daß sie dich behandeln").

David Wood bemerkte also schon als Schüler, daß ihm diese Gabe der Empathie fehlte. Sie war in seiner seelischen Ausstattung einfach nicht vorhanden. Wo andere beispielsweise Mitgefühl empfanden, war bei ihm ein leerer Fleck.[1] Er sah sich aber nicht als defizitär - und das ist ebenfalls typisch für pathologischen Narzißmus - sondern sah diesen Mangel als Beweis seiner eigenen Überlegenheit. Er gehörte gewissermaßen einem höheren Menschentypus an, er fühlte sich als Übermensch, der nicht durch irgendwelche Sentimentalitäten in seinem Handeln gebremst wird, sondern der endlich - ungehindert von allen "falschen" Rücksichten - frei und souverän handeln kann. Wie er berichtet, festigte sich diese Ansicht bei ihm zur Gewißheit, als im Schulunterricht die Evolutionstheorie besprochen wurde: er sah sich als eine der wenigen Mutationen der Art homo sapiens, dessen Verhalten nicht mehr - wie das der Tiere und seiner Mitmenschen - durch irgendwelche emotionalen Kopplungen behindert wird, sondern der eine neue Stufe wirklicher, echter Freiheit erklommen hat. So fühlte er sich als eine evolutionäre Morgengabe einer neuen, zukünftigen Form des Menschseins. Wie er schreibt, haßte er die Gesellschaft, weil sie ihm lächerliche, seines höheren Menschseins unwürdige Regeln aufzwingen wollte. Gut und Böse waren für ihn nur gesellschaftliche Konstrukte, Konventionen von und für Sklavenmenschen.[2]

Sie werden das als Leser möglicherweise - und zu Recht - absurd finden. Er selbst sah sich in seinem Bewußtsein so, aber es muß offenbar auch in seiner Seele das Korrektiv rumort haben, das ihn aus dieser krankhaften Selbsteinschätzung zurückholen wollte. Solche Stimmen störten sein Selbstbild, er dürfte sie als atavistische Anfechtungen betrachtet haben, die ihn wieder zurück auf die normalmenschliche, für ihn also die quasi-tierische Ebene ziehen wollten.

Um diese zweifelnden Stimmen in seiner Seele endgültig zum Schweigen zu bringen, plante der damals Achtzehnjährige eine Handlung, die möglichst barbarisch sein sollte und gegen die alle menschlichen Affekte sich instinktiv auflehnen: er wollte seinen eigenen Vater umbringen, und dies auf eine möglichst brutale Weise - mit einem Hammer.

Das führte er dann entsetzlicherweise auch aus. Sein Vater - der ihm später sogar verziehen hat - überlebte die grausame Tat wie durch ein Wunder, und David Wood kam zuerst in ein Spital, wurde dann aber zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt. Im Gefängnis bekehrte er sich nach vielen langen Diskussionen mit einem Mithäftling zum Christentum. Sein christlicher Glaube ermöglicht es ihm heute, ein anständiges Leben zu führen - er ist glücklicher Familienvater und hat vier Kinder.

Wie ich seinen Lebensbericht verstehe, betrachtet er sich heute aber keineswegs als geheilt. Der blinde Fleck ist weiterhin vorhanden, aber er sieht ein, daß es sich um ein psychologisches Defizit, eine Krankheit handelt, und er hat gelernt, damit zu leben, und das, was ihm auf emotionaler Ebene fehlt, durch bewußte, rationale Überlegung auszugleichen und unter Kontrolle zu halten.

Symptome der narzißtischen Persönlichkeitsstörung

Die Lebensgeschichte von David Wood zeigt einige typische Züge der narzißtischen Persönlichkeitsstörung, zu deren Kernzügen immer ein ausgeprägtes Überlegenheitsgefühl gehört. Im Unterschied zu einem wirklich großen Menschen, der sich selbst allenfalls als Werkzeug für seine Sendung wichtig nimmt, verfällt der krankhafte Narzißt einem Kult um die eigene Größe und die eigene Person. Er ahmt also das äußere Erscheinungsbild des wirklich großen Menschen nach, ohne jedoch eine Golddeckung aufzuweisen, ohne Substanz, die dieses Gebaren rechtfertigen oder zumindest entschuldigen würde. Dennoch gelingt es ihm zu blenden und zu beeindrucken.

Stolz, Hochmut und Überlegenheitsgefühl sind die Hauptgefühle in seiner Palette der Emotionen – Empathie, Mitgefühl, Liebe dagegen fehlen vollständig. Andere Menschen werden nur als Werkzeug gesehen. Laut Sam Vaknin, einem israelischen Autor, dem die narzißtische Persönlichkeitsstörung (NPS) diagnostiziert wurde und der ihre Symptomatik daher von sich selbst gut kennt, kann ein Narzißt niemals echte Freunde haben, denn das Konzept der Freundschaft ist ihm fremd. Er wird den "Freund" immer nur als Werkzeug, als Mittel für die Durchsetzung der eigenen Zwecke sehen, letztlich dient er wie alle anderen Menschen nur seinem eigenen Amüsement. Er umschmeichelt und idealisiert ihn in der Anwerbungsphase, um ihn dann auszubeuten und, wenn er ihn nicht mehr braucht, genüßlich zu demontieren, zu desavouieren und zu vernichten.

Von Sam Vaknin kommt auch folgendes kurzes Porträt: der maligne Narzißt

verhält sich arrogant und hochmütig. Fühlt sich überlegen, allwissend, allmächtig, unbesiegbar, über dem Gesetz stehend und allgegenwärtig (magisches Denken). Zornausbrüche bei Frustration, Widerspruch oder bei Konfrontation mit Menschen, die er als ihm unterlegen oder minderwertig betrachtet.
Die narzißtische Persönlichkeitsstörung ist in der Psychologie wohlbekannt, und das Standardwerk The Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders der American Psychiatric Association nennt folgende acht Merkmale der narzißtischen Persönlichkeitsstörung:
301.81 Narzißtische Persönlichkeitsstörung (englisch narcissistic personality disorder, Abk. NPD): ein verbreitetes Syndrom, zu dem die eigene Größe (in der eigenen Vorstellung und im Verhalten), das Verlangen nach Bewunderung und ein Mangel an Empathie gehören. Die NPD beginnt im frühen Erwachsenenalter und ist durch mindestens fünf der folgenden Kriterien nachweisbar. Der Narzißt
  1. hat ein übersteigertes Bewußtsein von der eigenen Wichtigkeit (übertreibt seine Leistungen und Begabungen oder erwartet, daß er auch ohne angemessene eigene Leistungen als überlegen anerkannt wird);
  2. phantasiert von grenzenlosem Erfolg, Macht, Brillianz, Schönheit oder idealer Liebe;
  3. glaubt, daß er etwas ganz Besonderes und Einzigartiges ist, und daß er darin nur von ausgewählten Menschen oder Institutionen gewürdigt werden kann;
  4. erwartet grenzenlose Bewunderung,
  5. hält sich für privilegiert und nimmt Sonderrechte für seine Person in Anspruch, erwartet eine ihn begünstigende Sonderbehandlung und besondere Berücksichtigung seiner Bedürfnisse;
  6. gebraucht andere Menschen zu seinen eigenen Zwecken (“interpersonally exploitative”, beutet andere Menschen aus);
  7. hat keine Empathie: er ist nicht bereit, Bedürfnisse und Gefühle anderer Menschen anzuerkennen, zu respektieren oder sich in sie hineinzuversetzen
  8. verhält sich arrogant und hochmütig.
Der Theologe Douglas McManaman bringt das Wesen dieser Krankheit auf den Kernpunkt [3]:
Was den Narzißten charakterisiert, ist die Unfähigkeit, jemanden zu lieben.
So wie es eine gesunde und eine pathologische Selbstliebe gibt, so unterscheidet der Psychoanalytiker Erich Fromm auch gutartigen und bösartigen Narzißmus. Zusammen mit der Liebe zum Toten (Nekrophilie, im Gegensatz zur Liebe zum Leben) und der “symbiotischen Fixierung auf die Mutter” bildet der bösartige Narzißmus laut Fromm ein Syndrom, das er Verfallssyndrom nennt und als “Quintessenz des Bösen” bezeichnet: “es ist gleichzeitig der schwerste pathologische Befund und die Wurzel der bösartigsten Destruktivität und Unmenschlichkeit.” [4]

Die politische Bedeutung

Nun könnte man sich fragen: es gibt eine Menge Persönlichkeitsstörungen - auch solche mit schädlichen Wirkungen auf andere Menschen - was ist ausgerechnet am pathologischen Narzißmus so bedeutsam?

Eine Antwort liegt darin, daß pathologische Narzißten, wenn sie im Ausleben ihrer Krankheit eine gewisse Schläue und Zielstrebigkeit haben, einen enormen gesellschaftlichen Schaden anrichten können, denn ihre Krankheit begünstigt sie beim Vorwärtskommen in Hierarchien. Die Konsequenz daraus - und die Begründung - wird als Oberthsches Gesetz bezeichnet (nach dem deutschen Physiker und Raumfahrtforscher Hermann Oberth) [5]:

Im Leben stehen einem anständigen Charakter so und so viele Wege offen, um vorwärtszukommen. Einem Schuft stehen bei gleicher Intelligenz und Tatkraft auf dem gleichen Platz diese Wege auch alle offen, daneben aber auch noch andere, die ein anständiger Kerl nicht geht. Er (der Unanständige) hat daher mehr Chancen, vorwärtszukommen, und infolge dieser negativen charakterlichen Auslese findet eine Anreicherung der höheren Gesellschaftsschichten mit Schurken statt. Das ethische Durchschnittsniveau einer Gesellschaftsschicht wird umso schlechter, je besser und einflußreicher sie gestellt ist.

Nur dieser Umstand vermag die Tatsache zu erklären, warum die Welt nicht schon seit mindestens fünftausend Jahren ein Paradies ist.

Die Beobachtung selbst ist von bestechender Logik: es kann gar nicht anders sein, pathologische Narzißten haben gerade wegen ihrer mangelnden Empathie einen Vorteil beim Aufstieg in der sozialen Hierarchie.

Oberths abschließendes Fazit (daß "nur deshalb die Welt kein Paradies sei") muß man deswegen nicht teilen, es ist viel zu utopisch vom Menschen gedacht. Die Welt wäre auch dann kein Paradies, wenn es gar keine pathologischen Narzißten gäbe. Sie sind aber auf jeden Fall ein breites Einfallstor für Unheil, sagen wir es klarer, für das Böse in die Gesellschaft. Auf dieser Beobachtung gründet der polnische Psychologe Andrzej Lobaczewski seine Politische Ponerologie, die "Wissenschaft vom makrosozialen Bösen".

Daß, wie es das Oberthsche Gesetz nahelegt, der pathologische Narzißmus in den Führungsschichten der Gesellschaft stärker repräsentiert ist, mag man bedauern, es ist aber unvermeidlich. Die Konsequenz des Oberthschen Gesetzes ist unausweichlich, jedenfalls solange man überhaupt zugesteht, daß eine Gesellschaft einer politischen Elite bedarf, um zu bestehen. Umso wichtiger wird es, in der Gesellschaftsordnung Mechanismen zu haben, um sich schädlicher Führungspersonen rasch zu entledigen und überhaupt ihren Einfluß auf irgendeine Art zu regulieren oder zu kontrollieren. In einer säkularen, demokratisch organisierten Gesellschaft wären solche Mechanismen etwa die Gewaltentrennung, kurze Amtszeiten für Abgeordnete, Personenwahl vor Parteienwahl, überhaupt Mechanismen zur Begrenzung des Parteieneinflusses, plebiszitäre Elemente wie Volksentscheide, sowie Subsidiarität; dies alles hatte ich in meinem Blog über direkte Demokratie näher ausgeführt.

Leider gewinnen selbst bei bester Anlage im demokratischen Staat die Kräfte langfristig die Oberhand, die sich hinter den Fassaden einnisten, dort ihre Seilschaften bilden und durch die personellen Verflechtungen Kontrollmechanismen wie Gewaltentrennung schließlich unwirksam machen. In Deutschland ist dies schon lange der Fall, vor allem wegen der übermäßigen Macht, die die Bundesrepublik den politischen Parteien zugesteht. Einer, der dies seit Jahren unerbittlich beobachtet und anprangert, ist der deutsche Verfassungsrechtler Hans Herbert von Arnim. Es scheint, daß die Demokratie nicht die Mittel hat, um diese Art von Kontrollmechanismen aus sich heraus dauerhaft zu erhalten, sie erodieren jedenfalls zusehends.

Außerdem ist zu bedenken, daß eine Demokratie auf die Dauer den Narzißmus in der ganzen Breite der Gesellschaft begünstigt. Zum Wesen des demokratischen Prinzips gehört – aufgrund der gleichen Machtverteilung durch die Wahlstimme auf alle Bürger – ein Gleichheitsgedanke, der Dinge wie Unterordnung, Gehorsam, Opfer, Verantwortung immer mehr zu einer Zumutung, einer Anmaßung, zu etwas Unerträglichem macht. Das fördert insgesamt den Narzißmus in gewaltigem Ausmaß, denn die Haltung, sich selbst ganz großartig zu finden, den individuellen Lebensgenuß als den Sinn des Lebens an sich zu definieren ("ein selbstbestimmtes Leben zu führen") und jede Art von Opfern oder Beiträgen an die Gemeinschaft als Zumutung von sich zu weisen, entspricht am besten dem Geist der Demokratie, wird am wenigsten ausgebremst und setzt sich daher auf lange Sicht durch. Nun ist nicht jeder Narzißmus ein pathologischer, aber wenn der Narzißmus insgesamt zu einem Breitenphänomen wird, steigt natürlich auch die Zahl der pathologischen Narzißten. Man kann also die politische Problematik des Narzißmus nicht auf die Eliten begrenzen. Der pathologische Narzißmus nimmt nicht nur in den Eliten, sondern in der Gesamtheit des Volkes zu, auch wenn natürlich zugestanden werden muß, daß Narzißten in gesellschaftlichen Führungspositionen ein viel höheres Schadenspotential haben.

Die theologische Bedeutung

Wenn selbst ein Marxist wie Erich Fromm den pathologischen Narzißmus als "Quintessenz des Bösen" bezeichnet und Lobaczewski auf ihm die Wissenschaft vom "makrosozialen Bösen" begründet (eben seine politische Ponerologie), so liegt es nahe, dieses Phänomen in einen theologischen und moralischen Kontext zu stellen. Das hilft einerseits, das Phänomen in seiner Tiefe zu verstehen, andererseits kann es auch Auswege weisen.

Genau dies tut der schon erwähnte Theologe Douglas McManaman in seinem Essay Narcissism and the Dynamics of Evil.

McManaman leitet in das Thema mit einer grundsätzlichen Betrachtung über Gut und Böse ein. Er stellt klar, daß das sittlich Gute etwas mit dem vollkommenen Sein zu tun hat. Der moralische Begriff von "gut" (mit dem Gegenbegriff "böse") ist im Kern ähnlich dem funktionalen Begriff von "gut" (der den Gegenbegriff "schlecht" hat). Ein Ding ist im funktionalen Sinne gut, wenn es den in ihm liegenden Zweck verwirklicht. So ist ein Stuhl gut, wenn man auf ihm stabil sitzen kann, oder ein Nahrungsmittel ist gut, wenn es den Organismus mit den Nährstoffen versorgt, die er braucht. Daher beginnt Aristoteles seine Nikomachische Ethik mit der Definition: "Gut ist dasjenige, wonach alles strebt." Das Gute bedeutet also für jedes einzelne Ding, wesenhaft es selbst zu sein - Vollkommenheit des Seins. Böse hingegen ist ein Mangel an Gutem, eine Unvollkommenheit, ein fehlendes Gut-Sein, ein Defekt, eine privatio boni. Das sittlich Gute und Böse setzt aber die Erkenntnisfähigkeit voraus - die Möglichkeit, ein Ziel zu erkennen und es mit seinem Willen anzustreben. Ein Tier kann nicht böse sein: denn im Begriff des Bösen liegt eine wissentliche und willentliche Abkehr vom Guten, eine Abkehr vom eigentlichen Hingeordnetsein der Dinge. Man kann das Böse daher einen ungeordneten Willen nennen. Das Böse ist auch eine bewußt gewollte, keine bloß erlittene Unvollkommenheit – anders als eine Krankheit oder ein Defekt.

Der gute Wille, als Wille zum Guten, ist Wohlwollen (benevolentia) – eigentlich Liebe. Der von benevolentia erfüllte Mensch will das Gute des anderen, aber auch das eigene Gute, er will daß alle Dinge das in ihnen liegende Ziel vollkommen erfüllen. So kann er einen anderen Menschen nur als Ziel in sich selbst sehen, nicht als Mittel zur Erfüllung eigener Zwecke. Nach einer Definition des römischen Rechtsgelehrten Ulpian († ~223 n. Chr.) ist Gerechtigkeit das stete Bemühen, jedem sein Recht zukommen zu lassen (iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi).[6] Eine unrechte Handlung dagegen verweigert dem anderen sein Recht auf irgendein Gut, sei es auf Wahrheit, auf sein Eigentum, sein Leben – letztlich auf sich selbst.

Wenn man es noch etwas genauer betrachtet, schmarotzt das Böse - wie in diesen Fällen - grundsätzlich von einem anderen Guten:

Jegliches Wesen, auch ein fehlerhaftes, ist demnach gut, insoweit es ein Wesen ist, böse aber nur, insoweit es fehlerhaft ist. Während es aber nun kein Mensch bezweifelt, daß gut und böse Gegensätze sind, so können sie doch nicht bloß zugleich miteinander bestehen, nein, noch mehr: das Böse kann überhaupt nicht ohne das Gute und nur am Guten bestehen, während umgekehrt das Gute seinerseits recht wohl ohne das Böse bestehen kann. Es kann z. B. ein Mensch oder ein Engel nicht (wesentlich) ungerecht sein; ungerecht aber kann er anderseits doch (per accidens) wieder nur als Mensch oder als Engel sein: und zwar ist es etwas Gutes, daß er ein Mensch und daß er ein Engel ist, etwas Böses aber, daß er ungerecht ist. Und diese beiden Gegensätze bestehen bis zu dem Grade gleichzeitig, daß überhaupt nichts Böses möglich wäre, wenn nicht etwas Gutes vorhanden wäre, an dem das Böse sein kann. Denn die Verderbnis könnte sich nicht geltend machen und hätte auch keinen Ausgangspunkt, wenn es nicht etwas gäbe, was von der Verderbnis ergriffen werden könnte; denn nur wo etwas Gutes ist, kann auch etwas verdorben werden; das Wesen der Verderbnis besteht nämlich in nichts anderem, als in der Beseitigung des Guten. Von dem Guten also hat das Böse seinen Ausgang genommen und nur am Guten ist das Böse möglich. Es gab auch sonst keine Quelle, aus der irgendein böses Wesen hätte hervorgehen können; denn gäbe es eine solche, so wäre sie ja in ihrer Eigenschaft als Wesen gut: und zwar wäre sie entweder ein unverderbliches Wesen und als solches ein großes Gut oder sie wäre ein verderbliches Wesen; aber auch als solches müßte sie gut sein, denn nur durch das Verderbnis eben dieses Guten könnte ihm das Verderben schaden.(Augustinus, [6a])

Der Mensch erschafft sich zwar nicht selbst, wie modische Denkströmungen und zeitgeistige Philosophien es uns einflüstern, sondern ist ein Geschöpf Gottes. Dank seiner Willensfreiheit und seiner Fähigkeit der Erkenntnis des Guten und Bösen erbaut er aber durch seine Willensentschlüsse seine moralischen Persona, wie ich es nennen würde (McManaman spricht von “Charakter”). Diese Persona ist seinem eigentlichen Wesen, seinem Sein, nachgeordnet - die Persona ist ein Gewordenes, ein Produkt vergangener guter wie böser Willensentschlüsse - kein Werdendes mehr. Sie ist wie eine Maske, durch die wir in dieser Welt wirken und in dieser Welt definiert und wahrgenommen werden. Nun unterscheiden sich gute und böse Willensentschlüsse darin, daß die einen dem Sein zugewandt, die anderen ihm abgewandt sind. Genauer gesagt, zehrt der böse Willensentschluß, die böse Handlung, von der Seins-Substanz, indem man z.B. andere Menschen nicht wie sich selbst behandelt, sondern als Mittel für eigene Zwecke verwendet. Mit dem Mißachten des Seins im allgemeinen schwindet aber auch die Achtung des eigenen Wesens – es kommt zum Selbsthaß.

Es scheint paradox: der Selbsthaß geht mit dem Egoismus einher, einer verzerrten Form der Selbstliebe, gekennzeichnet durch den Bruch der Goldenen Regel. Der Egoist sieht sich vor anderen Menschen als bevorrechtet an. Er hat also nicht etwa durch Verdienst oder eine besondere schicksalsgegebene Aufgabe ein Vorrecht, sondern weil er selbst so ein großartiger, überlegener Mensch ist (falls er sich überhaupt die Mühe macht, diesen eigenen Anspruch auf Sonderbehandlung und Sonderrechte zu begründen). Er selbst steht im Mittelpunkt, andere Menschen an der Peripherie und sind allein dadurch von Interesse, als sie seinen eigenen Interessen dienen können.

Der Egoist, der notwendigerweise ein Stück seiner eigenen Wesens-Substanz dafür preisgeben muß, daß er anderen die aus ihrer Substanz fließenden Rechte verweigert, wird dumpf dieses Stück Nichts, dieses Loch in seiner eigenen Seele bemerken. Um diese Wahrnehmung zu verdrängen, sucht er Bestätigung, Verehrung, Gehorsam - und genießt es, wenn andere ihn fürchten. Er weiß es auch zu verbergen, daß andere Menschen für ihn nur Mittel zum Zweck sind. Je intelligenter er ist, umso mehr kann er dem Mitmenschen den Eindruck vermitteln, er liebe ihn um seiner selbst willen.

Beim Lesen der Ausführungen McManamans muß ich unweigerlich an Oscar Wildes “Bildnis des Dorian Gray” denken. Dort wird in poetischer Weise genau das Verhaltensmuster des Narzißten beschrieben - gut auf dem Dachboden versteckt, steht das wahre Bild seiner häßlichen Seele, die mit jeder seiner Taten häßlicher wird, während Dorian Gray selbst sich vor den anderen seine blühende jugendliche Schönheit bewahrt. Das ist vielleicht nicht nur als erbauliche Geschichte über das Verhältnis von äußerer Schönheit und innerer Wahrhaftigkeit gemeint, sondern enthüllt die Tragik einer narzißtisch-soziopathischen Persönlichkeit.

In gewisser Weise repräsentiert diese Sorte Menschen das genaue Gegenteil des großen Menschen, den ich in meinem letzten Blog zu charakterisieren versuchte: sie versuchen gerade nicht, die ideale Form auszufüllen, auf die hin sie geschaffen sind, sondern sie weisen diese Form von sich und erbauen eine hohle Gegenform. Der große Mensch wird nur äußerlich imitiert, bloß karikaturhaft.

Um es noch mehr auf den Punkt zu bringen, könnte man sagen: der Narzißt pervertiert das christliche Hauptgebot der Liebe (Lk 10,27)

Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben, aus deinem ganzem Herzen, aus deiner ganzen Seele, aus deiner ganzen Kraft und aus deinem ganzen Denken, und deinen Nächsten wie dich selbst.
in das größtmögliche Gegenteil: an die Stelle der Gottesliebe tritt die Ich-Vergottung, und alle Mit- und Nebenmenschen werden im Lichte der eigenen glanzvollen Persönlichkeit zu minderwertigen Menschen. Eine stärkere Antithese zum christlichen Hauptgebot der Liebe ist nicht vorstellbar.

Natürlich stellt der pathologische Narzißt für die Gesellschaft ein ungeheures Schadenspotential dar – man stelle sich nur vor: in einer Führungsposition kann er einen Angriffskrieg befehlen oder gewaltige staatliche Verbrechen anzetteln, ohne auch nur einen Funken Schuldgefühl oder schlechtes Gewissen zu empfinden. Er kann die Führungsposition der Form nach ausfüllen und – mit Hilfe der ihm übertragenen Macht – hinter dieser Fassade perversen Gelüsten nachgehen und sich hemmungslos auf Kosten anderer Menschen amüsieren.

Dennoch sollte man nicht vorschnell den pathologischen Narzißmus in ein simplifizierendes Schema einordnen, das ich bei anderer Gelegenheit das linke Fundamentalnarrativ genannt habe (das zwar ganz besonders bei Linken gepflegt wird, aber nicht weniger verlockend auf Rechte und Libertäre wirkt):

"Die herrschende Klasse lebt von der Arbeit, dem Leid, Blut, Tod und den Konflikten der Menschen und zieht daraus eigenen Profit."
Für "herrschende Klasse" setzen verschiedene Ideologien hier verschiedene Gruppen von Menschen ein. Man könnte auch die Gruppe der pathologischen Narzißten einsetzen. Der Grundfehler dieses Narrativs ist der Irrglaube, man müßte nur diese jeweils benannte Menschengruppe (die Kapitalisten, die Juden, die Hochfinanz, alle Staatsbeamten, oder eben die pathologischen Narzißten) irgendwie loswerden, unschädlich machen oder die Gesellschaft ohne sie organisieren, und schon würde alles gut, würde die Welt zum Paradies, wie Oberth ja wörtlich sagt.

Das ist eine vereinfachende Immanentisierung eines viel tiefer liegenden Sachverhalts. Leid, Schmerz und Tod gäbe es auch, wenn es auf der Welt keinen einzigen pathologischen Narzißten gäbe. Leid, Schmerz und Tod gehören zur conditio humana, sie sind, theologisch gesprochen, Folgen der Erbsünde, die dieser Welt bis zum Jüngsten Tag anhaften werden.

Um im theologischen Rahmen zu bleiben: das linke Fundamentalnarrativ ist dennoch nicht grundsätzlich falsch, es liegt ihm eine wahre Beobachtung zugrunde: daß nämlich die Welt im Griff einer Widersachermacht ist. Es ist keine konkrete Menschengruppe, die sich von Leid, Haß und Konflikten unter den Menschen nährt, sondern eine übernatürliche Macht, die in der Sprache der Religion "der Fürst dieser Welt" genannt wird, und er würde immer versuchen, sich Geltung zu verschaffen, egal wie wir unsere Gesellschaften organisieren und strukturieren, und egal welche Menschengruppen wir in Führungspositionen haben.

Aus diesem Grunde spricht übrigens die amerikanische Katholikin Ann Barnhardt in einem instruktiven, gründlichen, dreistündigen Vortrag vom diabolischem Narzißmus – mit dem Beiwort diabolisch will sie betonen, daß in dieses Phänomen eine übernatürliche Komponente hineinspielt, ohne die es nicht umfassend verstanden werden kann.

Vertrauen und Autorität

Zu echter Autorität gehört nicht nur Härte, sondern auch Milde und Demut. Wer in einer Führungsposition steht, hat eine ungeheuer schwere Verantwortung vor denen, die er führt. Das Mißbrauchspotential ist gewaltig. Ein guter Herrscher muß in beständiger Sorge darum leben, das Richtige für die ihm anvertrauten Menschen zu tun. Seine Persönlichkeit sollte harmonisch ausgebildet und möglichst frei von irgendwelchen Schieflagen, Einseitigkeiten oder Einbildungen sein. Er sollte umfassendes Verständnis für und Einfühlung in die Probleme der ihm Unterstellten aufbringen. Den Gehorsam der ihm anvertrauten Menschen kann er umso mehr erwarten, je mehr er selbst sich mit seiner Aufgabe als Diener ansieht - im Dienste des Wahren, des Guten, der Gerechtigkeit, im Dienste Gottes und im Dienste seines Volkes.

Fluch über die Menschen, die nur um des Wohllebens, des sozialen Prestiges oder des Machtgenusses willen nach Führungspositionen streben! Sie schaden nicht nur sich selbst und anderen durch ihr konkretes Tun, sondern sie verderben auch allgemein das Vertrauen in die Führung, dessen eine Gesellschaft bedarf, um fortzubestehen.

So sah es noch der Preußenkönig Friedrich der Große:

Also, Wahrung des Rechtes [...] ist demnach eines Herrschers erste Obliegenheit. Über alles soll ihm seiner Völker Wohlfahrt gehen. Ihres Gedeihens oder Behagens Mehrer oder auch Begründer hätte er demnach zu sein. Aber was sollen dann all diese Begriffe Eigennutz, Hoheit, Ehrgeiz, Despotismus? So läuft es darauf hinaus, daß der Herrscher, weit entfernt, der unumschränkte Gebieter über seine Untertanen zu sein, nur ihr erster Diener ist, das Werkzeug ihres Glückes, wie jene das Werkzeug seines Ruhmes. [7]

Wenn man aufhört, Herrschaft in diesem Sinne zu verstehen, wird sie nicht mehr in der ihrer Natur gemäßen Weise ausgeübt.

Ob als Herrschender oder Beherrschter: der Narzißt hat ein grundsätzliches Problem mit Herrschaft. Gehorchen zu müssen, ist eine Beleidigung seiner vermeintlich göttlich-übermenschlichen Identität: da ballt er die Faust und schleudert den Herrschenden sein non serviam! entgegen. Ist er aber selbst in einer Herrschaftsposition (wozu es ihn natürlich drängt), verwendet er die ihm übertragene Macht in einer Art, die den Begriff und Sinn von Herrschaft karikiert und nachhaltig zersetzt.

Zusammenfassend läßt sich sagen: um sich gegen sie zu wappnen, ist es nützlich, die Tricks und Spielchen der pathologischen Narzißten – beispielsweise Projektion und Gaslighting – sicher zu erkennen. In einer großflächig dem Narzißmus verfallenen Gesellschaft kann ihr destruktives Potential gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Leider wird das Phänomen nicht aus der Welt verschwinden, wir werden mit diesen Menschen weiterhin leben müssen. Aber das Wissen um ihre Störung kann helfen, sie zu entschärfen.


[1] Eine interessante Frage, auf die er aber nicht eingeht, wäre, ob das immer so war, seit er sich erinnern konnte, oder ob er sich irgendwann im Jugendalter in diese Seelenverfassung hineinmanövriert hatte. Die American Psychiatric Association konstatiert jedenfalls, daß die narzißtische Persönlichkeitsstörung "im frühen Erwachsenenalter" beginnt.
[2] https://www.premierchristianity.com/Past-Issues/2016/May-2016/David-Wood-From-Nihilism-To-New-Life
[3] Douglas McManaman, Narcissism and the Dynamics of Evil. https://www.catholiceducation.org/en/culture/catholic-contributions/narcissism-and-the-dynamics-of-evil.html, zuerst in Life Magazine 2005.
[4] Erich Fromm, Die Seele des Menschen und ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen, Open Publishing Rights GmbH, 2014, S. 33
[5] Hermann Oberth: Wählerfibel für ein Weltparlament, Feucht 1983, S. 52
[6] Zitiert im Codex Iuris Civilis, 1.1.10, dem römischen Bürgerrecht, auf dessen Grundsätzen und Regeln unsere Rechtsprechung bis heute basiert. Hier wird das Ulpian-Zitat zur Definition der Rechtsprechung verwendet.
[6a] Augustinus, Enchiridion oder: Buch vom Glauben, von der Hoffnung und von der Liebe, Nr. 13
[7] Friedrich II. von Preußen: Der Antimachiavell - Kapitel 3, online bei Projekt Gutenberg

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