Mittwoch, 11. April 2007

Geist und Hirn

Die Gehirnphänomene sind für das geistige Leben in der Tat das, was die Gesten des Kapellmeisters für die Symphonie sind: sie zeichnen davon die Bewegungsansätze und sonst nichts. Vom höheren Wirken des Geistes würde man also in der Gehirnrinde nichts finden. Das Gehirn hat ausser seinen sensorischen Funktionen keine andere Aufgabe, als im weitesten Sinne des Wortes das Leben des Geistes mimisch darzustellen. [Henri Bergson]

Das Gehirn als "Kapellmeister des Geistes" - ein Gedanke, der allen Fortschritten der modernen Hirnforschung zu spotten scheint. Ist nicht längst der Geist als Epiphänomen der Gehirnströme entlarvt? Ist es nicht eigentlich genau entgegengesetzt: Geist - ist das nicht, wie schon Kebes dem Sokrates entgegenhielt, nichts als der Wohlklang der Geige? Nur ein Klang, ein Duft, eine Begleiterscheinung der wirklichen Dinge - in seiner Existenz an diese gebunden und von diesen abhängig?
Nein. Gehirnströme bleiben Gehirnströme, und Geist bleibt Geist! Die beiden Ebenen, Geist und Materie, verbleiben in schroffem Gegensatz, der seit Jahrtausenden zum Nachdenken herausfordert. Die Erfahrung, dass unser Geist eine autonome Wirklichkeit darstellt, ist uns ebenso unmittelbar wie die Erfahrung der sinnlichen Wirklichkeit. Blicken wir nach innen, können wir die Realität des Geistes wahrnehmen - blicken wir nach aussen, erleben wir die Realität der sinnlichen Welt.
Was sagt es denn, dass Hirnforscher bestimmte Zonen im Gehirn als zuständig für bestimmte Gedanken oder Gefühle feststellen, ja dass sie mittlerweile durch Analyse der Gehirnströme schon ein bisschen "Gedanken lesen" können? Es besagt lediglich, dass Gedanken auf wohlbestimmte Weise in unserem Gehirn manifest werden. Das wäre auch ohne Kenntnisse der Hirnphysiologie ein zu erwartendes Ergebnis: denn das Gehirn ist das Mittler-Organ, in dem sich der Geist auf der physischen Ebene spiegelt. Um Absichten in der Welt wirksam werden zu lassen, müssen Gedanken sich materialisieren. Entschlüsse müssen letztlich zu bestimmten Nerven- und Muskelaktivitäten heruntergebrochen werden. Wie dies konkret geschieht, bleibt vorerst ein Rätsel (mindestens solange die Welt des Geistes und der Ideen nicht mit derselben Intensität studiert wird wie derzeit die Gehirnströme). John C. Eccles hat sich mit diesem Thema befasst (in "Wie das Selbst sein Gehirn steuert") und hat versucht, eine Erklärung dieses Zusammenhangs zu geben. Aber hier gibt es noch viel zu tun.
Nicht alles, was in seinen inneren Zusammenhängen rätselhaft ist, darf dem "Ockhamschen Rasiermesser" zum Opfer fallen. Die Realität des Geistes ist eine unmittelbare Erfahrung von so hoher Priorität, dass man sie nicht einmal als eine Hypothese einstufen kann. Bevor ich ein Erlebnis von der Realität der sinnlichen Welt haben kann, habe ich ein Erlebnis der Realität des Geistes, in dem sich diese Welt abbildet. Und auch Gehirnströme sind als Teil der sinnlichen Welt diesem ursprünglichen Geist-Erlebnis nach- und untergeordnet. Die Abhängigkeitskette ist also gerade umgekehrt als es uns Kebes und seine modernen Nachfolger weismachen wollen: Die Realität der Sinnenwelt setzt die Realität des Geistes voraus.

"Man kann zwar tun, was man will, aber nicht wollen, was man will", sagte Arthur Schopenhauer einmal sinngemäss. Die Hirnforschung meint seit kurzem dieses Bekenntnis zum Determinismus wissenschaftlich untermauert zu haben: Schon eine knappe Sekunde bevor nämlich der Mensch einen bewussten Willensentschluss fälle, sei dieser bereits im Gehirn nachweisbar.
Tatsächlich entdeckte der Neurobiologe Benjamin Libet, daß Versuchspersonen der Entschluß, die Hand zu heben, erst bewußt wird, nachdem ihr Gehirn bereits mit der Vorbereitung der Bewegung begonnen hat. Dem Willensentschluß geht ein Bereitschaftspotential von durchschnittlich 350 Millisekunden voraus. Das bewußte Wollen kann gar nicht die Ursache der neuronalen Aktivität sein, weil es erst nach dem Aufbau des Bereitschaftspotentials auftritt und niemals gleichzeitig mit diesem. Manche Autoren ziehen aus diesem Befund den Schluß: Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun. [Hans Goller SJ]
Die Zeitdifferenz entspricht in der Grössenordnung ungefähr der menschlichen Reaktionszeit. Somit sei bewiesen, dass das Gehirn uns dirigiere - wir würden nur glauben, einen freien Willen zu besitzen. In Wahrheit würden die Vorgänge im Gehirn den scheinbar freien Willensentschluss nur induzieren.
Die Schlusskette, die ich in Radiosendungen und Feuilletons schon seit einiger Zeit wiederholt finde (dabei fand das Libet-Experiment bereits in den 80er Jahren statt), überzeugt mich nicht, ja ich finde sie regelrecht dürftig. Ich sehe es so: Der Geist fällt den Entschluss - bis dieser sich jedoch im Gehirn wiederspiegelt, verstreicht eine gewisse Zeit, und bis dieser Entschluss im gehirngebundenen Bewusstsein auftaucht, verstreicht eine weitere Zeitspanne. Dass ein Gehirn für einen Menschen aus Fleisch und Blut Voraussetzung seines Selbstbewusstseins ist, ist nach meiner Meinung keine besonders sensationelle Entdeckung: Schon seit einiger Zeit weiss man, dass es nach "leichten Schlägen auf den Hinterkopf" oder anderen Hirnschädigungen um das menschliche Selbstbewusstsein nicht mehr so besonders toll bestellt ist. Das ist doch selbstverständlich und bringt niemanden aus der Fassung. Schon Kebes hätte betont, dass man auf einer kaputten Geige keine Wohlklänge erzeugen kann (das war ja auch der eigentliche Zweck seiner Metapher)! Um in einem fleischlichen Menschen auftreten zu können, muss der Geist sich des Gehirns als seines Instruments bedienen. Wenn das Instrument kaputt ist, kann er nicht mehr in die menschliche Organisation hineinwirken. Der Mensch wirkt dann unbewusst, krank oder debil. [Ich glaube aber, dass wir den Geist besser verstehen werden, wenn wir ihn von einem gesunden Menschen ausgehend untersuchen als von einem kranken.]
Dass aber die Selbstwahrnehmung eines Gedankens im gehirngebundenen Bewusstsein - aufgrund der Verknüpfung mit materiellen Prozessen im Gehirn - einer gewissen Verzögerung unterliegt, kann weder als Beweis für den Determinismus noch für den Materialismus herangezogen werden. Denn dieser Effekt macht keinerlei Aussage darüber, was zuerst kommt - er basiert ja auf Messwerten, auf Sinnlichem und muss daher den Geist, dem der Entschluss entspringt, aus seiner Untersuchung ausklammern. Im Sinnenbereich kann man nur die *Abbilder* von Geistigem wahrnehmen, nicht das Geistige selbst: Eben die Gesten des Kapellmeisters!
Astrologisch ist das Gehirn dem Mond zugeordnet. Das ist nicht nur der äusseren Erscheinung des Gehirns geschuldet, denn der Mond regiert auch die Drüsen, das Lymphsystem, das Wässrige und Schwammige - sondern es hat auch eine tiefere Bedeutung: Wie der Mond das Sonnenlicht spiegelt, so ist das Gehirn Organ der Reflexion. Es spiegelt unseren Geist, bildet dessen Tätigkeit auf der sinnlichen Ebene ab.
[Henri Bergson] Die seelische Energie, Jena 1928, S. 67.
[Hans Goller SJ] Willensfreiheit - eine Illusion?, Stimmen der Zeit 2/2003

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