Sonntag, 4. September 2016

Zu Dir hin hast Du uns geschaffen

Im heutigen Evangelium (Lk 14,26-27) heisst es:
So jemand zu mir kommt und hasset nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kind, Brüder, Schwester, auch dazu sein eigenes Leben, der kann nicht mein Jünger sein. Und wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolgt, der kann nicht mein Jünger sein.
Wie schroff, ja brutal! Sich und die Seinen hassen? Das ist doch Hate Speech! Da müssen wir etwas machen!

Die moderne Einheitsübersetzung versucht den heutigen Leser zu besänftigen, indem sie das harte hasset durch gering achtet ersetzt. Ich bleibe bei hasset, denn erstens steht es im Original (griechisch μισεῖ, in der Vulgata steht da odit, die Sachlage ist eindeutig), und zweitens ist hier eine emotionale Beteiligung gemeint, die weit über ein blosses "Geringachten" hinausgeht. Wenn das anstössig ist – dann sei es eben so.

Wie ist das zu verstehen? Verstösst diese Aufforderung nicht direkt gegen das vierte Gebot Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren? Ganz sicher nicht! Es sagt nur, dass es einen Ruf gibt, der noch stärker sein muss als der Ruf der Welt mit ihrer horizontalen Eigengesetzlichkeit, in die wir eingebettet sind, ja die unsere Identität in dieser Welt ausmacht. Wir stehen in dem Strom von Tradition und Fortschritt, in der Kette von Ahnen und Nachfahren, in dem besonderen geschichtlichen Sein unseres Volkes und unserer Rasse, und all diesem sind wir verpflichtet - aber all dies hat kein Recht, uns von unserem transzendenten Quell wegzuziehen. Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen, sagte es einer von Jesu grössten Schülern zu späterer Gelegenheit. All das Horizontale, das in dieser Welt Weiterwachsende, hat natürlich seine Berechtigung, aber es stillt nicht unseren metaphysischen Durst. Das Wasser des Lebens strömt nicht aus diesen Quellen.

Wie der Hirsch nach dem Wasser der Quelle dürstet, so dürstet meine Seele nach Dir, Herr, singt, ruft verzweifelt, ja weint der Psalmist. Es ist das Verlangen nach dem Wasser, das den Durst auf ewig stillt. Wer kann dieses Sehnsuchts- und Klagelied lesen und unberührt davon bleiben?

Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir.
Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue?
Meine Tränen sind meine Speise Tag und Nacht, weil man täglich zu mir sagt: Wo ist nun dein Gott?
Wenn ich des innewerde, so schütte ich mein Herz aus bei mir selbst; denn ich wollte gerne hingehen mit dem Haufen und mit ihnen wallen zum Hause Gottes mit Frohlocken und Danken unter dem Haufen derer, die da feiern.
Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir?
Harre auf Gott ! denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.

Die Seele, die nach diesem Wasser dürstet, das den Durst auf ewig stillt, stösst Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern unwirsch weg, wenn diese sie davon abhalten wollen.

Dies ist der "Hass", der im Wort Jesu gemeint ist. Er gilt dieser Welt, die sich vor die Seele hinpflanzt und sagt: mir allein sollst Du dienen, es gibt nichts ausser mir. Oder, wenn wir die moderne Variation dieser Sonate spielen: Dir allein sollst Du dienen - Du bist Dein eigener Herr, Du bist frei, verwirkliche Dich selbst, es ist Dein Recht! Niemand hat das Recht, Dich davon abzuhalten!

All diese Stimmen - sie mögen sanft säuselnd, dem Ego schmeichelnd, oder auch den Opferdienst fordernd daherkommen - all diese Stimmen weist die Seele schroff ab, die sich nach Gott sehnt, die Gottes Liebesangebot an die erste Stelle setzt.

Nun ist, was der Versucher sagt, nie ganz falsch – er redet immer so, dass man ihm aus seiner Rede keinen Strick drehen kann: natürlich sind wir frei – und es ist etwas Grosses um diese Freiheit, da sie uns Gott ähnlich macht – und natürlich sollen wir alle Schicksalszusammenhänge freudig bejahen, in die wir gestellt sind - wir sollen aus ganzer Kraft Vater bzw. Mutter sein, den Ehepartner und die Kinder lieben, Brüder und Schwestern lieben, unser Volk lieben – aber zuallererst zieht es die Seele zu ihrem Schöpfer, vor dem sie ganz allein steht. Ohne trügerische Sicherheit, ungeborgen und ungeschützt durch irgendwelche Zusammenhänge, in denen er sich verstecken könnte, gilt jedem einzelnen ganz ausschliesslich die Ansprache, die der lebendige Gott an ihn richtet.

Und selbstverständlich gibt es hier Grade der Kraft – Abstufungen, in denen man Jesu Aufruf ernst nimmt. Ich habe nicht diejenigen zu verurteilen (wie man es aus einem "irdischen" Pflichtverständnis tun könnte), die diesen Aufruf radikal ernstgenommen und sich völlig aus den Weltzusammenhängen herausgelöst haben - in die Einsamkeit einer Einsiedlerklause oder eines Klosters gingen, um sich ganz ungestört dem Ruf Gottes zu öffnen. Hier ist es wie mit der Bergpredigt: es gibt eine Ebene, in der sie radikal ernstgenommen werden kann, zu der sich einige wenige auch berufen fühlen: die Heiligen. Ihr Leben ist fortan nicht mehr dem Gesetz der Schwerkraft unterworfen. Ihr Verhalten folgt keinen nach irdischen Maßstäben nachvollziehbaren Regeln - sie leben noch hier, aber eigentlich schon nicht mehr hier.

Aber auch die vielen, die nicht so weit gehen können oder wollen, spüren, dass sie in dieser Existenz hier nur ein Zeichen oder Gleichnis sind; sie spüren in allem den geheimnisvollen Verweis auf eine höhere Ganzheit, die nur in das irdische Sein hineinragt.

Beda Venerabilis kommentiert das Jesuswort wie folgt:

Es gibt einen Unterschied zwischen "allem entsagen" und "alles verlassen"; denn nur wenige Vollkommene haben die Kraft, alles zu verlassen, das heisst die Sorgen dieser Welt hinter sich zu lassen. Aber es ist die Aufgabe aller Gläubigen, allem zu entsagen, das heisst die Güter dieser Welt so zu besitzen, dass sie dennoch durch sie nicht in der Welt festgehalten werden.
In einem alten indischen Weisheitstext, der Bhagavadgita, beeindruckte mich eine Stelle so, dass sie lange meine Homepage zierte:
Wer nicht der Welt verhaftet ist, frei von Selbstsucht, voller Entschlossenheit, sicher und mit ruhiger Aufrichtigkeit in der Hingabe, ohne Berauschtheit beim Erfolg, ohne sich entmutigen zu lassen beim Misserfolg — wer so handelt, wird sattva-artig genannt.
Das drückt etwas Ähnliches aus wie das Entsagen, von dem Beda spricht: es geht um ein inneres Sich-Herausziehen aus den Gesetzen dieser Welt. Ohne dabei das, was man tut, etwa nicht mehr aus ganzem Herzen und ganzer Kraft zu tun.

Die östliche Geisteswelt preist den Seelenzustand, in dem "nichts mehr anhaftet". Sie realisiert damit das, was Nietzsche später das "Frei von" nannte. Denjenigen, die die Befreiung von allem predigen – und das geht an den westlichen Liberalismus ebenso wie an diese östlichen Weisheitslehren – schleudert Zarathustra seine berühmte Frage entgegen:

Frei nennst du dich? Deinen herrschenden Gedanken will ich hören und nicht, dass du einem Joche entronnen bist.
Frei wovon? Was schiert das Zarathustra! Hell aber soll mir dein Auge künden: frei wozu?
Die Freiheit als solche, so kostbar sie ist, ist eben ein leerer Raum. Die entscheidende Frage ist, ob wir sie dazu nutzen, das in uns liegende, in uns hineinragende göttliche Gesetz zu verwirklichen.

Auf die Frage nach dem Frei wozu? hüllen sich die östlichen Weisheitslehrer in lächelndes Schweigen. Aber unsere christlichen, westlichen Weisheitslehrer geben uns genau auf diese Frage Auskunft - zum Beispiel Augustinus von Hippo (354-430):

Groß bist du, Herr, und über alles Lob erhaben. Und da will der Mensch dich preisen, dieser winzige Teil deiner Schöpfung. Du selbst regst ihn dazu an; denn du hast uns zu dir hin geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir.

Keine Kommentare :