Sonntag, 10. Februar 2008

Monte Cassini

Keine Sorge, diesmal soll es nicht um Militärgeschichte gehen, denn die berühmte Schlacht des Zweiten Weltkriegs spielte sich am Monte Cassino ab, während man den Monte Cassini, dem dieser Blog gewidmet ist, vergeblich in den Geographie-Atlanten sucht.
Eine der seltenen Aufnahmen dieses mysteriösen Monte Cassini finden Sie hier:


Um es abzukürzen - Sie gehen recht in der Annahme, dass dieser Berg ein Phantasiegebilde ist,[1] jedoch liegt ihm eine exakte geistige Imagination zugrunde!

Der in Ligurien geborene Astronom Giovanni Domenico Cassini (1625-1712) ist der Namensgeber des oben zu betrachtenden Monte Cassini. Das muss näher erläutert werden. Cassini, ein überaus erfolgreicher und genau beobachtender Astronom, auf den viele Entdeckungen zurückgehen, glaubte entgegen den damals auf dem Siegeszug befindlichen Theorien von Kepler und Newton, dass die Planeten sich nicht auf Ellipsen bewegen, sondern auf gewissen, von ihm selbst entdeckten Kurven vierten Grades, die heute als Cassinische Kurven firmieren. Hier ein Überblick über all diese Kurven, die ich der Onlinewerbung des Herrn Wolfram für sein Mathematikprogramm entnommen habe:


Prominentes Mitglied dieser Familie ist zweifellos die bereits früher von Bernoulli beschriebene Lemniskate oder "liegende Acht". Sie trennt die in zwei Komponenten zerfallenden Kurven von den zusammenhängenden, oval gekrümmten Kurven. Stellen Sie sich nun einen Kurvenparameter vor, der die einzelnen Kurven dieser Familie klassifiziert. Wenn Sie diesen Kurvenparameter als Höhenparameter verwenden und alle Cassinikurven aufeinanderschichten, erhalten Sie das oben dargestellte Gebirge.[2][3]

Ellipse oder Cassini-Oval? Der Streit darum, welche Kurve die Planetenbewegung besser beschreibt, hat eine mathematische Pointe. Bekanntlich ist eine Ellipse die Menge der Punkte, die von zwei festen gegebenen Punkten (den Brennpunkten) eine feste Abstandssumme haben. Die Cassini-Kurven dagegen sind dadurch definiert, dass das Produkt der Abstände von zwei festen Punkten konstant bleibt. Die Frage "Cassini oder Kepler" ist also die Frage "Multiplizieren oder Addieren"!
Die Definition der Cassini-Kurven führt zu folgender analytischer Form:


Im Sonderfall der Lemniskate ergibt sich eine besonders einfache Darstellung in Polarkoordinaten:


Lag Cassini mit seinen Ovalen wirklich so falsch? Er hätte in gewissen Fällen recht bekommen: Wenn nämlich die Gravitation nicht mit dem Quadrat, sondern mit der siebten Potenz des Abstands abnehmen würde! Dies hat der Physik- oder Mathematikstudent in Übungsaufgabe 5.59 von Murray R. Spiegels Lehrbuch Theoretical Mechanics nachzurechnen: Wenn man als Bahn eine Lemniskate haben möchte, muss man ein Kraftfeld proportional zu r^-7 annehmen.

Freunden der Anthroposophie ist die Familie der Cassinischen Kurven wohlvertraut. Sie wird von Steiner zur Verdeutlichung der in den Kulturepochen durchschrittenen Seelenzustände herangezogen. Dann entspricht der Kreis der uralt-indischen Epoche, in der Geistiges und Irdisches noch als Einheit erlebt werden. In der darauffolgenden urpersische Epoche kam der Dualismus hinein, symbolisiert durch die ovalen Figuren mit den zwei Brennpunkten und der schon sichtbaren Tendenz zur Abschnürung. In dem vor allem durch die ägyptische und bablyonische Kultur repräsentierten Bewusstsein, ist diese Abschnürung schon soweit vorgeschritten, dass Diesseits und Jenseits, Innen und Aussen, wie zwei spiegelbildlich aufeinander bezogene Welten empfunden werden, die in einem Atmungsprozess stehen. Das entspricht bildlich der Lemniskate. Im nachfolgenden Zeitalter, der von der Seelenverfassung bis ins Spätmittelalter hineinreichenden griechisch-römischen Zeit, ist die Kurve in zwei Äste zerfallen. Innen und aussen, physische und geistige Welt werden schmerzlich als getrennt erlebt. Erst unser heutiges Zeitalter der Bewusstseinsseele, das ungefähr im 15. Jahrhundert begann, hat die Aufgabe, diese verlorengegangene Verbindung wiederherzustellen. So lebt die Lemniskatenfigur wieder neu auf, diesmal durch einen bewussten Prozess hinzugefügt. (Man könnte, um die Reihe zu vollenden, mit einem sechsten Zeitraum fortfahren, in dem die ovale Figur und einem siebten, in dem der Kreis wiederhergestellt wird.)[4]

Ein Rätsel der obigen Figur blieb noch unerwähnt: Was soll der Goldring, der dort zwischen den Gipfeln herumschwebt? Nun ja - der Ring fühlt sich der Familie Cassini verwandt. Wenn Sie eine Ebene transversal durch einen Torus wandern lassen ergeben sich Schnittkurven, die den Cassinischen Kurven ähneln und qualitativ die gleiche Verwandlung durchmachen wie oben beschrieben, aber im allgemeinen keine Cassini-Kurven sind.

Nachtrag (im August 2015). Sieben Jahre wurde auf diesem Blogpost fälschlich behauptet, diese Torusschnitte seien Cassini-Kurven, bis mich der @schattenkoenig am 27.7.2015 in vornehmer Art korrigierte: dass jeder achsenparallele Torusschnitt eine Cassini-Kurve erzeuge, könne er nicht bestätigen. Er hatte sich selbst mit den Cassini-Kurven befasst und auf matheplanet.com eine sehr schöne und umfassende Darstellung der Lemniskate geliefert.

Mein Versuch, die Sache mit einer schnellen Änderung und ohne tiefergehende Prüfung meines Vorurteils über Torusschnitte zu erledigen, verschlimmbesserte die Lage nur.

Der @schattenkoenig aber beharrte auf der Wahrheit:

Es dauerte ein paar Tage, bis ich Zeit dazu fand, dies mit Papier und Bleistift zu verifizieren. Natürlich hat er recht, und natürlich ist es mir peinlich, mich als Student der Bonner Universität, an der ein Egbert Brieskorn weilte [5], nie mit den doch recht elementaren Spiren des Perseus befasst zu haben.

Nun denn - das sei hiermit nachgeholt. Wir betrachten einen Torus, der mit der z-Achse als Drehachse entstand. Erzeugt werde er von einem Kreis mit dem Radius r und der Entfernung R vom Ursprung. Die Torusgleichung erhält man, wenn man sich die Kreisgleichung des gedrehten Kreises in dem Fächer der Ebenen anschaut, die die z-Achse enthalten:

Wenn wir den Torus mit einer Ebene y = const schneiden, ergibt sich nach einigen einfachen Umformungen (Quadrat ausmultiplizieren, Isolieren der Wurzel, erneutes Quadrieren, Terme ordnen) eine Kurve in Form einer Beziehung zwischen x und z.

Wenn wir λ = y²- r² substituieren, lautet diese Beziehung:

Eine Cassinische Kurve, die wie dieser Torusschnitt zu den gewählten Koordinatenachsen symmetrisch ist, müsste aber folgende Gleichung haben, wobei e der Abstand der beiden "Brennpunkte" vom Mittelpunkt sei und das fixe Abstandsprodukt den Wert habe:

Ein Koeffizientenvergleich der beiden Gleichungen zeigt klar, dass nur der Torusschnitt mit λ = 0 (also y = r) eine Cassinikurve ist. Es ist dann e=R und a²=2rR. Die Brennpunkte liegen also bei (±R,r,0), und das konstante Produkt hat den Wert 2rR, in Übereinstimmung mit dem Ergebnis des @schattenkoenigs:





[1]Zur Herstellung des Bildes habe ich ein bisschen mit dem freien Kultprogramm POVRay gespielt. Mein Ex-Kollege Uwe Herold, in dieser Hinsicht mit einem ähnlichen Spieltrieb ausgestattet wie ich, brachte mir dieses Programm nahe.

[2] Der Parameter musste so gewählt werden, dass der Grenzfall, wenn die Cassinischen Kurven sich in zwei Punkte zusammengezogen haben, einem endlichen Parameterwert entspricht, und zwar so, dass die Gipfelpunkte des Monte Cassini glatt (nichtsingulär) sind. Das war ich auch der Ästhetik schuldig.

[3] Diese Graphik entstand in freundlicher Erinnerung an meinen ehemaligen Kommilitonen Heinrich Siemens (HS8), der mir und Atsushi Kono die Besonderheiten dieser Kurvenfamilie zu nächtlicher Stunde darlegte.

[4] Die Familie der Casssini-Kurven im Zusammenhang mit den Zeitaltern wird von Rudolf Steiner im sechsten Vortrag des Zyklus "Die Sendung Michaels" (GA 194) vom 30.11.1919 in Dornach behandelt. Man findet den Vortrag auch online unter anthroposophie.net.

[5] Egbert Brieskorn verfasste mit Horst Knörrer das Standardwerk Ebene algebraische Kurven (Birkhäuser 1981).

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