Freitag, 10. April 2009

Zwei Wirklichkeiten

Als Johannes Kepler in seiner Weltharmonik die Musik der Planetenbewegungen betrachtete, kam er darauf, dass die Erde bei ihrem Lauf um die Sonne die Tonfolge "Mi Fa Mi" produziert (e - f - e). Schon daraus könne man entnehmen, merkte er an, dass auf unserem Wohnsitz Miseria et Fames (Elend und Hunger) herrschen.[1] So ist es geblieben. Wir ergötzen uns an den Schönheiten der Erde, aber zugleich leben mehrere Milliarden Menschen am Existenzminimum oder darunter, sterben jährlich mehrere Millionen den grauenvollen Hungertod. Auch die Erde selbst, so schön wir sie finden, unterwerfen wir uns ohne Rücksicht, als würden wir uns (für einmal!) auf einen göttlichen Auftrag berufen: Fruchtet und mehrt euch, und füllet die Erde. Eure Furcht und euer Schrecken sei auf allem Getier der Erde und allem Gevögel des Himmels, allem was auf dem Acker sich regt und allen Fischen des Meeres, in eure Hand sind sie gegeben. Alles Rege, das lebt, euch sei es zur Speise, wie das grüne Kraut gebe ich euch alles.[2]

Man kann sich an der Schönheit einer blumengeschmückten Frühlingswiese erfreuen. Aber wenn man genauer hinschaut, sieht man in der selben Wiese das grausame Antlitz der Natur. Es war diese Zerrissenheit, die einem Carl Gustav Jung schon als Knabe zu schaffen machte: In der Farbenpracht der Wiese sah er auch die andere Seite: Regenwürmer, die von Ameisen zu Tode gequält werden, Insekten, die einander Stück für Stück auseinanderreissen usw. [3] Man kann nicht nur die Schönheit sehen, sondern auch die Not, die Grausamkeit, den Überlebensdruck, die merkwürdige Teilnahms- und Geschichtslosigkeit in der Tier- und Pflanzenwelt. Wenn der Mensch auf Zugaben verzichtet, ist das die Welt, wie sie ist. Und was können menschliche Zugaben schon ausrichten?

Eine ganze Menge! Wenn wir uns in dieser Welt einrichten, erschaffen wir sie zugleich neu, prägen ihr unseren eigenen Stempel auf. Zur Natur kommt die Kultur hinzu, und damit eine neue Dimension der Welt. Das fängt mit ganz alltäglichen Dingen an, zum Beispiel mit der Kleidung. Indem wir uns kleiden, "bedecken wir unsere Blösse" und zeigen, dass die nackten Tatsachen nicht die einzige Wahrheit sind. Auch die guten Umgangsformen gehören dazu, mit denen wir einem geistigen Austausch Raum geben; und das Interesse am anderen, wodurch wir unsere eigenen Bedürfnisse relativieren und einen wohltuenden Abstand einführen. Unsere selbsterschaffene Gegenwelt reicht bis hin zu den grossen Themen von Wissenschaft, Kunst und Religion. All dies trotzen wir der blossen Natur ab. Es ist kein Überbau, kein Kunstprodukt, keine blosse Fiktion, um die nackte Wirklichkeit zu überdecken. Das ist der Irrtum der Marxisten. Die kulturelle Sphäre, diese zweite Schöpfung, ist ebenso real wie die erste und kommt wie ein ergänzender Pol durch den Willen des Menschen dazu. In dieser Welt kann nur der Mensch die spirituellen, die geistigen und die ästhetischen Dinge überhaupt Gestalt werden lassen, und das gibt ihm die Verpflichtung, es auch zu tun. So fügt er die neue, die zweite Wirklichkeit zu der ersten, ohne sein Zutun vorhandenen hinzu.

Der Karfreitag verweist auf die allen Zaubers beraubte, blosse Welt, auf die erste Wirklichkeit im obigen Sinne. Aller spiritueller Reichtum ist dahin, es bleibt ein lähmendes Gefühl der Hilflosigkeit und des Elends, wie es Faust vor Gretchens Kerkerzelle empfindet: Der Menschheit ganzer Jammer fasst mich an. [4] Mit welchem Recht gibt es dieses Karfreitagserlebnis eigentlich noch, wenn die zweite Wirklichkeit, die uns dem blossen Reich der Notwendigkeit enthebt, doch längst erschaffen ist? Sie ist eben nicht einmal irgendwann in Erscheinung getreten, sondern muss immer wieder neu erschaffen werden. Das Reich der Freiheit ist eine creatio perpetua, die wie jede echte Schöpfung immer wieder durch das Nichts hindurchgehen muss.

In einer dunklen Stelle im Römerbrief ist vom ängstlichen Harren der Creatur [5] die Rede, der Erlösungssehnsucht der Welt, die auf das Offenbarwerden der Kinder Gottes wartet. Könnte damit der Auftrag einer zweiten Schöpfung gemeint sein, die an uns Menschen gerichtet ist? Dass es gilt, eine in den Dingen enthaltene Verheissung sichtbar zu machen, die nur wir Menschen aussprechen können?



[1] Kepler, Johannes: Weltharmonik, übersetzt und eingeleitet von Max Caspar, Oldenbourg Verlag, München 1982 (unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1939), S.310.
[2] Genesis 9,1-3, in der Verdeutschung von Martin Buber, Das Buch Im Anfang, Schneider, Berlin o.J.
[3] Jung, Carl Gustav: Erinnerungen, Träume und Gedanken, Walter Verlag, Olten 1971, S. 74.
[4] Goethe, Johann Wolfgang von, Faust I, Vers 4406.
[5] Röm. 8,19.: Denn das ängstliche Harren der Creatur wartet auf die Offenbarung der Kinder Gottes, übersetzt von Martin Luther.

2 Kommentare :

mundanomaniac hat gesagt…

Hallo Winterthur,

eine schöne sensible Betrachtung das ... - eins ist mir so deutlich wieder geworden: vor Jahren, ungefähr einem Dutzend, ging es uns, wie soll ich sagen - - - wir konnten großzügiger kalkulieren. Da, erinnere ich, oft war ich da bis in die intime Ruhe "angefressen" von der Not aller Notleidenden...
Jetzt, wo bei uns wirklich nur das Nötigste da ist (plus unerwartete kleine Geschenke), jetzt ist diese ungebetene Stimme des Jammers still.
Dafür hat sich mit der Armut ein Gefühl der Freiheit etabliert.

Rüdiger, sie sind ein großer Torwächter,in meinem Leben und Ihnen verdanke ich das mundane tagebuch. Mei - wenn ich drann denke, nie wäre ich allein darauf gekommen, dass etwas wirklich geben könnte, was mir so entspricht und wo ich, hoffentlich, etwas Schulden abtragen kann ...
Entschuldigung - in meiner Sicht. Und selbst - Zufriedenheit kann ja auch etwas unschätzbar einsam kostbar Normales sein.

Ihnen und ihrem Haus möge genausoviel Segen erblühen, wie uns in Murnau aus Ihrer Präsenz erblüht ist.

mundanomaniac und Frau

Rüdiger Plantiko hat gesagt…

Hallo Murnau,

vielen Dank für Ihre freundlichen Worte. Ich habe Ihren Kommentar in diesem mit Kommentaren nicht eben dicht bedachten Blog erst jetzt bemerkt.

Mit besten Grüssen
Ihr Rüdiger Plantiko