Freitag, 24. April 2009

Zufall und Notwendigkeit

Beim Wurf eines Würfels lässt sich die geworfene Augenzahl nicht vorhersagen. Nicht mit den besten Methoden der Wahrscheinlichkeitstheorie erhält man irgendeinen Hinweis, ob der nächste Wurf eine Sechs wird oder nicht. Der Blick der Wahrscheinlichkeitstheorie richtet sich nicht auf das Einzelereignis, sondern auf die Serie: Wenn von tausend Würfen nur hundert eine Sechs liefern, ist der Würfel verdächtig - wahrscheinlich ist er nicht hinreichend symmetrisch gearbeitet. Warum aber ist der Wissenschaftler nicht zutiefst beunruhigt darüber, dass da etwas seinem Zugriff entzogen ist - nämlich das Ergebnis des einzelnen Wurfs?

Es ängstigt ihn ganz einfach deshalb nicht, weil er weiss, dass diese Unsicherheit nur eine scheinbare ist. Mit ein paar weiteren Informationen wäre die Vorhersage des Einzelwurfs leicht zu bewerkstelligen: Wie nehme ich den Würfel in die Hand, wie weit hole ich aus, mit welcher Kraft lasse ich den Würfel aus welcher Höhe über die Tischplatte rollen, aus welchem Holz ist die Tischplatte, wie ist ihre genaue Oberflächenstruktur und Elastizität, was sind die Reibungswerte? Wären all diese Parameter (und vielleicht noch ein paar weitere ähnlicher Art) bekannt, liesse sich das Wurfergebnis genauestens vorhersagen.

Beängstigend wird es erst, wenn es Zufallsprodukte gibt, die nicht aufgrund uns lediglich unbekannter "verborgener Parameter" nur scheinbar zufällig sind, sondern echten Zufall darstellen: einen Zufall, von dem man beweisen kann, dass er nicht bloss das Produkt einer uns in den Details unbekannten Gesetzmässigkeit sein kann! Und Zufall dieser Art gibt es, wie die Quantenmechanik zeigt. Radioaktiver Zerfall ist von dieser Art: Es lässt sich, anders als beim Würfel, prinzipiell nicht vorhersagen, wann genau dieses bestimmte Radiumatom zerfallen wird. Das ist schockierend für alle, die an eine wenigstens im Prinzip total gesetzmässig bestimmte Welt glauben: Wir können die Welt nicht bloss deshalb nicht total vorausbestimmen, weil wir nicht alle Parameter der Weltmaschine kennen — die Welt ist vielmehr prinzipiell keine berechenbare Maschine, sondern der echte Zufall gehört ebenso zu ihren Grundlagen wie die Gesetzmässigkeit. Stabilität und Gesetzmässigkeit der uns umgebenden grossen Welt sind ihrerseits nur das Produkt des Gesetzes der grossen Zahl - sie haben keine absolute Geltung.

So kommt auf Quantenebene prinzipiell Unbestimmbares, Unberechenbares in die Welt. Auf unserer menschlichen Ebene sind unsere Willensentschlüsse von ähnlicher Art. Obwohl in die Welt eingreifend, unterliegen sie nicht ihren Gesetzen. Zwar gibt es auch hier Wahrscheinlichkeitsvoraussagen aufgrund der äusseren Umstände (nach dem banalen Muster, dass ein Hungriger sich um Nahrung bemühen wird usw.). Aber eine exakte Vorhersage, Vorherbestimmung unserer Willensentschlüsse ist nicht möglich. Es würde mich nicht wundern, wenn eine Bewusstseinsforschung der Zukunft Unberechenbarkeiten der Quantenwelt als mit dem freien Willen verknüpft entdeckt. In diese Richtung scheinen bereits jetzt die Erklärungsansätze des Physiologen und Philosophen John C. Eccles zu weisen, wobei er sich im Kern gewisser Ideen des Physikers Henry Margenau bedient.[1]

Der echte Zufall lässt sich also nicht aus der Welt herausdiskutieren, sondern konstitutiert sie gemeinsam mit seiner Schwester, der Notwendigkeit. Dies stellt Dieter Hattrup in seinem kürzlich erschienenen Buch "Darwins Zufall" eindringlich fest.[2] Darüberhinaus führt er uns die ganze Geschichte der modernen Naturwissenschaft seit Descartes als ein ständiges Bemühen vor, ein Bollwerk gegen den Zufall zu errichten. Den Naturforschern steht mehr oder weniger unausgesprochen das Ideal einer bis ins kleinste berechenbaren Weltmaschine vor Augen, deren Zufälligkeiten nur scheinbarer Natur sind, da wir noch nicht all ihre Parameter kennen. Das wirkt noch bis in unsere Zeit nach: So strebt die Physik die "Grosse Vereinheitlichung" der verschiedenen, quälend nebenläufigen Grundkräfte Elektromagnetismus, Gravitation sowie starker und schwacher Wechselwirkung an. Mit den echten Zufällen auf der Quantenebene fand man sich erst nach zähem Ringen ab. Noch Schrödinger stöhnte: "Wenn es doch bei dieser verdammten Quantenspringerei bleiben soll, so bedaure ich, mich mit der Quantentheorie überhaupt beschäftigt zu haben." [3] - Es blieb dabei! Die Verletzung der Bellschen Ungleichung ist schon viele Male experimentell nachgewiesen worden, wodurch eine deterministische Erklärung von Quantenphänomenen mittels verborgenen Parametern unmöglich wird.

Der Determinismus ist eine grosse Versuchung für alles Theoretisieren. Es ist verlockend, die vielfältigen Erscheinungen auf einige einfache Grundgesetze zurückzuführen. Auch kann man sich sehr schlau vorkommen, wenn man beispielsweise den freien Willen mit einer schönen Theorie als blossen Schein erklärt, dem nur naive Menschen anhängen (die die dem Willen in Wirklichkeit zugrundeliegenden Gesetze nicht kennen). Das hat eine lange Geschichte. In früheren Zeiten hat man die Astrologie dafür missbraucht, die Freiheit wegzuerklären: Nicht der Mörder hat die Tat begangen, sondern der Mars warf einen bösen Gegenschein auf seinen Saturnum. Heute stehen andere, zeitgemässere Theorien zur Verteidigung der menschlichen Unfreiheit parat: Die Gesellschaft war's, die Eltern, seine Neuronen, sein Triebdruck (Libido) usw. Auch im Grossen ist es ein schönes Gefühl, hinter die Kulissen zu blicken und das Entstehen und Vergehen von Weltreichen und Gesellschaftsordnungen oder auch das Auf und Ab der Märkte mit einigen im Kern sehr einfachen Bewegungsgesetzen zu "erklären".

Indem wir den echten Zufall anerkennen, hat es mit all diesen Schlaubergereien ein Ende. Alle behaupteten Gesetzmässigkeiten werden in das Reich einer bloss relativen Gültigkeit verwiesen.

[1] John C. Eccles, Wie das Selbst sein Gehirn steuert, Piper Verlag, München 1996.
[2] Dieter Hattrup, Darwins Zufall, oder: Wie Gott die Welt erschuf, Herder Verlag, Freiburg 2008. So interessant dieses Buch ist - über die Herkunft des Menschen ist mit "Darwins Zufall" nach meiner Ansicht noch lange nicht alles gesagt. Wahrscheinlich noch nicht einmal das Wesentliche.
[3] Dieses Schrödingerzitat ist uns von Werner Heisenberg überliefert, siehe Wikiquote

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