Freitag, 7. August 2009

Statische Utopien

Alles Leben will Veränderung, Weiterentwicklung, Wachstum. Die Phasen der Konstanz sind nur Ruhepausen, in denen die nächsten Veränderungen vorbereitet werden. Feste Regeln und Gesetze sind nur die Rahmenbedingungen, um die Entwicklung auf dem jeweils richtigen Niveau zu ermöglichen: Ein Änderungswille, der auf keine Grenzen stösst, zerfliesst im Unendlichen und wird dadurch annulliert. Sind die Grenzen aber zu eng, zu starr, so wird der Lebenswille entweder frustriert und zum Verstummen gebracht - dann wirken Grenzen tödlich - oder die zu engen Grenzen werden durch eine Eruption des Lebenswillens umgestürzt, und im weiteren Verlauf korrigieren sie sich auf ein freilassenderes Mass.

Was für das Individuum gilt, gilt auch für die Gemeinschaft. Auch Gemeinschaften sollten so verfasst sein, dass Korrekturen jederzeit möglich sind, ja dass die Änderbarkeit ihre essentielle Grundlage darstellt.

Es ist seltsam, dass eine Forderung wie diese, die so selbstverständlich, beinahe trivial erscheint, auf einen so herausragenden Denker wie Platon anscheinend eher beängstigend wirkte: Wie ein hemdsärmeliger Ingenieur konstruierte er in seiner Politeia einen aus Kasten zusammengesetzten Staat, der uns an die Organisation eines Termitenvolkes erinnert. Er hielt einen solchen Staat, einmal errichtet, für ewig und unwandelbar - und versuchte anscheinend sogar, ein solches Gebilde mit echten Menschen Gestalt werden zu lassen.

Von Zeiten der Politeia bis heute gibt es eine stattliche Reihe mehr oder weniger poetischer Produkte in denen solche leblosen, statischen Utopien entworfen werden. Gesellschaften, die die vom Autor erdachte Ordnung ad infinitum reproduzieren, wurden in älteren Zeiten meist als positive Utopien hingestellt. Doch im Laufe der Zeit wurde man vorsichtiger, auch aufgrund neuer Erfahrungen mit Umgestaltungen der Gesellschaft.

Während zu Beginn der Neuzeit Campanella (im Sonnenstaat) oder J. V. Andreae (in der Christianopolis) ihre Geistesprodukte noch als endgültige Lösung aller sozialen Probleme ansahen, hüteten sich bereits die Marxisten, ihre als geschichtlichen Endzustand angesehene "klassenlose Gesellschaft" genauer zu definieren. Insbesondere Marx wusste um die Problematik, als Angehöriger der bürgerlichen Gesellschaft keine Gesellschaftsordnung beschreiben zu können, die sich erst als Resultat von Kämpfen und damit einhergehenden Veränderungen des Bewusstseins einstellen kann, also von anderen Menschen im historischen Prozess erst erschaffen werden wird. Ausser einem vagen "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen" war ihm daher über die konkrete Gestalt des Kommunismus nicht viel zu entlocken.

Seit dem 20. Jahrhundert erscheinen statische Utopien eher als Schreckensbild denn als erstrebenswertes Ideal einer zukünftigen Gesellschaft. George Orwell führte uns in "1984" eine auf totaler Kontrolle basierende Gesellschaft vor Augen, die auf grausame Weise jede Veränderung des Systems für alle Zeiten verhindert. Ähnlich kontrolliert geht es in Aldous Huxleys Schöner neuer Welt zu, in der darüberhinaus auch noch die Unzufriedenheit mit den Verhältnissen auf ewig abgeschafft wurde: Billige Attraktionen wie Fühlkinos und die vom Staat genehmigte nebenwirkungsfreie Droge "Soma" könnten genügen, um das Bedürfnis der Menschen nach Glück für immer zu stillen.

Auf diesen beiden Werken fusst auch der im Jahre 2006 erschienene Roman Genesis des neuseeländischen Autors Bernard Beckett. Hier wird die Idee der total kontrollierten Gesellschaft noch um das Motiv des Androiden angereichert, das er der Science-Fiction-Literatur entnommen hat. Sind die Androiden, also denkfähige Maschinen, einmal konstruiert, haben sie gegenüber Säugetieren wie dem Menschen den Vorteil eines nahezu unbegrenzten Lebens, da sie durch Reparatur und Backups jederzeit in ihrem aktuellen Zustand wiederhergestellt oder auch kopiert werden können. (Schon dies spricht m.E. gegen die Möglichkeit ihrer Existenz. Es ist der alte materialistische Irrtum zu glauben, die Schallplatte wäre schon die Musik.) Jedenfalls passen solche potentiell unsterblichen Wesen gut in die negative Utopie einer für immer zementierten Gesellschaft. Beckett hat die Sonate nur anders gespielt.

Der erstmals von Leo Trotzki in einem engeren Sinne eingeführte Begriff der permanenten Revolution brachte eine interessante Wendung in der sozialistischen Theorie. Trotzki verwendete den Begriff für eine nach seiner Ansicht für Länder wie Russland anstehende Phase von Revolutionen, die die bürgerlichen ebenso wie die proletarischen Revolutionen umfassen. In diesem engeren Sinne ist der Begriff selbst Geschichte. Interessant wird die permanente Revolution jedoch als Gegenbild zu einem unbeweglichen Endzustand der Weltgeschichte. Die Theorie, aus dem (Staats-)Sozialismus werde durch allmähliches "Absterben des Staates" die klassenlose Gesellschaft hervorgehen, ist nicht glaubhaft. Wie ein Blick auf die Geschichte der "real existierenden Sozialismen" zeigt, hatten deren Staatsapparate alles andere als ihr eigenes Absterben im Sinn. Gegen eine ihre Herrschaft verfestigende Nomenklatura hilft nur das permanente Aufbegehren des Volkes, das sich immer wieder seiner Führung entledigt und sich neue Strukturen erschafft, die seinen aktuellen Bedürfnissen besser entsprechen. Da niemand diese Bedürfnisse vorhersagen kann, ist es unmöglich, die konkrete Gestalt postrevolutionärer Gesellschaften vorhersagen zu wollen. Erst recht verbietet sich die Projektion eines finalen Zustandes, der am Ende dieses Prozesses stehen soll.

Die schärfste Kritik fanden die Marxisten stets aus den Reihen der Kirche (neben einer positiven Rezeption in der Befreiungstheologie). Christliche Kritiker warnten davor, den "Himmel auf Erden" realisieren zu wollen. Die kommunistische Vision enthält für den gläubigen Menschen immer eine unzulässige Vermischung mit dem transzendenten Begriff der Erlösung, und aus seiner Sicht ist es das Mitschwingen dieses Erlösungsmotivs, das den Sozialismus für viele so attraktiv macht. Erlösung kann aber nicht aus dem für unsere natürliche Ordnung charakteristischen Hin und Her von Gewalt und Gegengewalt hervorgehen, sondern ist der Immanenz enthoben. Erlösung ist etwas, das niemals vollständig Einzug in diese Welt halten kann, auch wenn wir nicht aufhören, uns danach zu sehnen.

fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te - Du hast uns zu Dir hin geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir, meditierte Augustinus von Hippo. In dieser Welt ist Unruhe oder, positiver formuliert, Veränderung, das vorherrschende Motiv. Sie ist zu bejahen und zu begrüssen, denn sie ist die Essenz alles Lebendigen. Aber in seinem tiefsten Grund speist sich das Leben aus einer Quelle, die der Dialektik enthoben ist.

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